Der Beginn des 20. Jahrhunderts bringt mit sich grundlegende Veränderungen an der Form des Romans. Virginia Woolf schrieb 1924 in ihrem Essay „Mr. Bennett and Mrs. Brown“ dass sich „um Dezember 1910 der menschliche Charakter verändert“ habe. Man kann lange darüber spekulieren, was sie damit gemeint hat, doch für mich steht fest: der Übergang zum neuen Jahrhundert brachte ein anderes Verständnis von Welt und Mensch hervor. Diese Verschiebung spiegelt sich deutlich in der Literatur wider. Die Themen sind neu erfunden worden, und auch die Form des Erzählens hat sich zersplittert und neu zusammengesetzt.
Autorinnen und Autoren wie Woolf, William Faulkner und später auch die Vertreter des Postmodernismus entwickelten eine Prosa, die nicht mehr linear von A nach B führt, und stellt die Frage was Literatur ist überhaupt. Europäische Schriftsteller der späten 20. Jahrhundert wie Milan Kundera und Jose Saramago spielen weiter mit fragmentierten Erinnerungen und ineinander übergehende Stimmen, und widersetzen sich den klassischen Erzählkonventionen. Mit solcher Literatur bin ich vertraut. Doch “Die natürliche Ordnung der Dinge”, erschienen 1992, von portuguesischen Schriftsteller António Lobo Antunes war ein anderes Erlebnis. Das Buch war für mich eine radikale Herausforderung an Lesegewohnheiten. Die Geschichte steht im Hintergrund, und man bekommt das Gefühl, in ein Geflecht aus Stimmen, Zeiten und Erinnerungen hineingezogen zu werden. Und, vielleicht gegen dem was der Titel scheint zu versprechen, plötzlich zu merken, dass es keine sichere Ordnung gibt, an der man sich festhalten könnte.
die natürliche Ordnung der Dinge, worum geht’s?
[Portas Stimme an den Schriftsteller] Ich begriff, das Rassiermesser in der Luft, dass es deinen Heini gar nicht gibt, wie es auch den Nussbaum, den Vater, die Tante, die Quinta do Jacinto nicht gibt, ebensowenig wie Alcântara oder den Tejo, ich begriff, dass du mich für zwei, drei Scheine an einem merkwürdigen Bluff hast arbeiten lassen, dass du diese Geschichte für deine Kapitel erfunden hast, gib zu, dass du mich gezwungen hast, meine Zeit und meine Schüler mit irgendeinem Ammenmärchen zu verlieren
(ins Deutsche von Maralde Meyer-Minnemann)
Ich gebe hier bewusst eine lineare Zusammenfassung, auch wenn der Roman selbst jede lineare Ordnung sabotiert. Vielleicht dient dieser Faden all jenen, die sich in das Labyrinth des Textes wagen wollen. “Die natürliche Ordnung der Dinge” beginnt außerhalb einer inneren Spirale, die sich immer enger zieht. Zehn Stimmen erzählen über etwa vierzig Jahre hinweg und verweben Gegenwart und Vergangenheit zu einem einzigen Gewebe. Diese Figuren tragen körperliche und seelische Wunden, und viele wissen nur zu gut, dass ihr Leben eine Chronik ihrer Krankheiten und Enttäuschungen ist. Es sind Schicksale, die dem Vergessen geweiht scheinen, wie erzählte Leben, die verschwinden, sobald das Buch zugeschlagen wird.
Im Kern geht es um zwei Familien, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Erst spät begreift man, dass diese Trennung nur ein Scheinbild ist. Wir befinden uns 1992, in Lissabon, im Stadtteil Alcântara. Ein alter Mann, der sich in das junge Mädchen Iolanda verliebt hat, lebt, mit der Erlaubnis ihres Vaters und gegen die Übernahme der Haushaltskosten, in ihrem Zimmer. Der Roman ist in fünf Bücher unterteilt, und jedes dieser Bücher wird von zwei Stimmen getragen: einer aus der Familie des alten Mannes und einer aus Iolandas Umfeld. Das Erzählen selbst wird zum zentralen Akt, denn jede Stimme kennt nur ein Fragment der großen Geschichte, die beide Familien verbindet, und jede Stimme hat ihre eigene zuhörende Ohr. Erst am Ende wird sichtbar, wie diese verstreuten Fäden der Menschen, Orte, Zeiten ineinandergreifen.
Im ersten Buch spricht der alte Mann zu der schlafenden Iolanda. Er erinnert sich an „die Familie seiner Mutter“, an das Haus seiner Kindheit und an den Umzug von Benfica nach Alcântara. Die zweite Stimme gehört Portas, einem ehemaligen Brigadenchef der Geheimpolizei aus Salazars Diktatur, der einem unsichtbaren Schriftstellen vom alten Manns Tun berichtet. Von diesem Moment an verweben sich private und politische Geschichte, und daraus entsteht eine Familienchronik, in der Leid und Erinnerung wie ein Geschwür unter der Oberfläche weiterwachsen.
vom Tejo umarmte Erinnerungen
[Herr Oliveiras Stimme an Iolanda, seine Tochter] Also reiße ich schließlich die Decken wieder von den Fensterrahmen, ziehe die Rolläden wieder hoch und sitze, besiegt von diesem Licht, das mich haßt, im Wohnzimmer und höre dem Tejo zu. Wie in Monção, wie in Esposende, wie in der Beira, wie überall in diesem Land, in dem sich alles zum Meer hin eigt, in dem man die Wellen im Haar der Ähren spurt, und dann frage ich mich, wie man an einem Ort leben kann, der nur nutzloses Strandgut der Ebbe ist
(ins Deutsche von Maralde Meyer-Minnemann)
„Finden Sie nicht auch, dass Portugal eine einzige Wasserverschwendung ist?“, fragt ein Geist aus der Vergangenheit Herrn Oliveira, Iolandas Vater. Im zweiten Buch tritt er als Erzähler auf und erzählt seiner Tochter von seiner Zeit als Bergarbeiter in Johannesburg, Südafrika. Doch seine Erinnerungen bleiben nicht dort verankert. Sie kehren immer wieder zu dem Land zurück, das er verlassen hat und zu dem er wiederkehren will. Wir befinden uns immer noch am Anfang der Geschichte und die Leserin ist durch unbekannte Stadtnamen und wechselnde Orte in ein Labyrinth gefangen. Denn “Die natürliche Ordnung der Dinge“ ist nicht nur eine rätselhafte Familiengeschichte. Es ist auch die Chronik eines Landes, das sich seiner eigenen Geographie und Kolonialgeschichte nicht entziehen kann.
Portugal, und besonders Lissabon mit den Stadtteilen Alcântara und Benfica, aber auch Südafrika und Alger bilden die Bühne dieses zersplitterten Familiendramas. Und mittendrin liegt der Tejo in seiner Rolle ein Gedächtnisspeicher und Zeuge der Zeit. Der Fluss, der sich aus beinahe jedem Fenster der Stadt zeigt, zieht sich durch die Erzählungen wie ein Organismus, der die Schmerzen und Verfehlungen der Figuren in sich aufnimmt. Doch der Tejo ist auch 1992, im Gegenwart des Erzählens, sehr präsent. Wenn Herr Oliveira an seine Jahre als Bergarbeiter in Johannesburg denkt, bricht in seiner Stimme auch eine verbitterte Wut hervor – gegen Portugal, das Land, das ihn geprägt hat und das er nicht loswird, und gegen den Tejo, der alles mitansehen musste. Der Fluss ist immer da, dem kann man sich nicht entziehen, wie eine doppelte Persönlichkeit des Menschens.
die Leseerfahrung
Ich habe hier eine lineare Übersicht der Handlung geboten, aber wer daraus schließt, der Roman ließe sich geradlinig erschließen, betrügt sich selbst. Dieses Buch läuft nicht von A nach B, und manche Sachen werden nie sauber erklärt. Es prüft die Geduld, die Lesefähigkeit und den Willen, überhaupt weiterzumachen. Die Stimmen wechseln, überlagern sich, fallen sich ins Wort. Man verliert ständig die Orientierung, weiß nicht, wer spricht, wessen Erinnerung gerade übernommen wurde oder wie die Bruchstücke irgendwann zusammenpassen sollen.
Beim Lesen hatte ich oft das Gefühl, durch Dunkelheit zu treiben, ohne zu wissen, ob irgendwo ein Ufer existiert. Doch jede Seite liefert ein neues Teil, das etwas irgendwie klärt oder weiterbringt. Mit jedem Absatz rückt man näher an ein Zentrum, das sich erst spät zeigt und trotzdem von Anfang an spürbar ist. “Die natürliche Ordnung der Dinge” besitzt eine innere Logik, aber nicht die, die man erwartet. Die Ereignisse folgen keiner sichtbaren Struktur, und man denkt zunächst, die Geschichte sei Chaos. Irgendwann bemerkt man, dass das Chaos nur die Tarnung war. Eine Ordnung gibt es immer, nur eben nicht unsere.





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