Seitdem Han Kang 2024 den Nobelpreis bekommen hat, sehe ich ihren Namen überall in den Buchläden. “Die Vegetarierin” war der natürliche Einstieg in die Entdeckung ihres Werks, und jetzt mache ich weiter mit “Deine kalten Hände”. Ein auffälliges Buch – schon das Cover hat mich sofort angesprochen: eine Person unbekannten Geschlechts, in einem weißen Hemd, die mit der linken Hand das linke Auge bedeckt. Das rechte Auge fehlt, sauber ausgeschnitten, als wäre es direkt aus dem Kopf entfernt worden. Diese verstörende Bildsprache setzt sich im Text fort: Eine Schriftstellerin stößt auf die seltsamen Werke eines Bildhauers – und liest dann sein Tagebuch.
Masken und Hüllen
Die Gipshülle bestand aus einzelnen Teilen, vom Künstler miteinander verbunden, wie man vielleicht Teile eines abgezogenen Fells zusammennäht. Anstatt die Verbindungsstellen sorgfältig zu bearbeiten, hatte er sie lediglich grob mit Gips verschmiert. Der Mann sah aus wie ein von Frankenstein geschaffenes unförmiges Monster, wie ein zerfetzter Leichnam, dessen Einzelteile wieder zusammengestückelt worden waren.
„Deine kalten Hände“ hat einige Gemeinsamkeiten mit „Die Vegetarierin“ – Kunst, Körper, Essen sind eng miteinander verflochten. Daraus entsteht eine Geschichte, die mich gleichzeitig angezogen und erschüttert hat. Und ich muss ehrlich sagen: Gerade im Erschüttern liegt die Anziehungskraft des Buches. Im Buch geht es wieder um den menschlichen Körper als Projektionsfläche, als Material, als Grenze. Han Kang schreibt über Körper wie andere über Landschaften schreiben – mit Klarheit, Bewunderung und fast chirurgische Nähe. Die Figuren in diesem Buch tragen Masken, legen Hüllen ab, verwandeln sich. Was wir sehen, ist immer ein Bruchteil eines untertragbaren Ganzen.
Im Zentrum der Geschichte steht Jang Unhyong, ein Bildhauer der von dem weiblichen Körper als Sprache der Kunst fasziniert ist. Er macht Gipsabdrücke von Körperteilen der Frauen, die er kennenlernt. Besonders angezogen fühlt er sich von L., Studentin und Besucherin seiner Ausstellung. Er beginnt mit Abdrücken ihrer Hände, doch ihr „riesigen Körper“ findet Jang endlos inspirierend. Die Geschichte entfaltet sich rückblickend, durch die Entdeckung einer Schriftstellerin, die das Tagebuch des Bildhauers liest, wenn er spurlos verschwindet. Was sie darin entdeckt, ist zunächst eine klassische, chronologische Lebensgeschichte, beginnend in der Kindheit und führend bis zur Gegenwart. Doch wer zwischen den Zeilen liest, erkennt schnell: Es ist ein Bericht voller Obsessionen, Verluste und Begegnungen, die alle um dieselbe Leerstelle kreisen: Wie lässt sich Nähe erfahren, wenn die Menschen wie Hüllen erscheinen?
der wahre Ich
Die Abdrücke hatte ich an den Schnittstellen zu einem weiteren Körper vereint. Klappte man die Teile wein wenig auseinander, war die Spür von L.‘s Körper genau zu sehen. Ich verspürte oft das Verlangen, in die Plastik hineinzugehen. Bückte ich mich etwas und zog den Kopf ein, würde mei schmaler Körper vollständig davon umhüllt werden.
Han Kang hat eine seltene Gabe – sie kann unaussprechliche Emotionen in Bilder übersetzen und all das in einer klaren Sprache erzählen. Ihre Sätze tragen nichts Überflüssiges, und gerade dadurch wirken sie umso stärker. Die Bildhauerei, mit der sich Jang beschäftigt, ist das zentrale Symbol im Buch. Die Hüllen, die er aus menschlichen Körpern formt, lassen sich auf zwei Arten lesen: Einerseits zeigen sie, wie leer ein Mensch wirken kann, wenn man nur seine äußere Form betrachtet. Andererseits enthalten sie die Ahnung, dass in dieser Hülle jemand verborgen ist – jemand, der nicht alles von sich preisgibt, nicht beim ersten Blick, vielleicht nie ganz.
Die Frage, was mit Jang wirklich passiert ist, bleibt offen. Im zweiten Teil des Buches trifft er E., eine Frau, deren Schönheit etwas Verdecktes in sich trägt. Jang begegnet ihr zunächst in ihrem beruflichen Umfeld, doch auch dieses Leben hat für E. mehrere Schichten. Sie führt ein Doppelleben zwischen Auftritt und Rückzug, zwischen Darstellung und Schutz. Für Jang wird sie zu einer Projektionsfläche, vielleicht auch zu einer letzten Möglichkeit, sich selbst zu begreifen – oder sich zu verlieren. Ihre Begegnung ist nicht romantisch im klassischen Sinn, sondern geprägt von Distanz, Spiegelung, vorsichtiger Offenheit. Es ist eine Annäherung, bei der sich beide nie ganz zeigen und doch genau das versuchen: gesehen zu werden, ohne sich erklären zu müssen.
was am Ende bleibt
Was mir von „Deine kalten Hände“ am stärksten in Erinnerung bleiben wird, sind die Beschreibungen der Hände – zart, kalt, nah. Han Kang schafft es, mit wenigen Worten ganze Gefühlslandschaften in der Abbildung der Hände zu legen.
Ebenso beeindruckt hat mich die Vielschichtigkeit der weiblichen Figuren. L. und E. stehen für zwei ganz unterschiedliche Arten, Frau zu sein – in der Öffentlichkeit, in Beziehungen, im Umgang mit dem eigenen Körper. Beide verweigern einfache Lesarten, beide behalten sich etwas vor. Genau das macht dieses Buch so spannend: Es zeigt Menschen, die man nie ganz durchschauen kann. So wie sonst im Leben auch.
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