In “So tun, als ob es regnet” spielt Iris Wolff geschickt mit Übersetzungen und kulturellen Nuancen. Bereits der Titel selbst ist eine Interpretation einer rumänischen Redewendung. Die Figuren sprechen Deutsch, leben aber in Rumänien oder auf einer spanischen Insel. Das Buch trägt den Untertitel “Roman in vier Erzählungen” und es ist all das, aber auch gleichzeitig weder Roman noch Erzählungssammlung. Alle Erzählungen sind unabhängig und haben einen bestimmten Charakter im Fokus. Doch beim Lesen der zweiten, dritten und letztendlich vierten Geschichte, merkt man, dass kein Charakter für sich alleine stehen kann. Sie sind alle sowohl durch Familienbeziehungen als auch durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die im Alltag zum Leben kommt, miteinander verbunden.
kurz geschrieben
In der ersten Geschichte sitzen wir neben Jacob in einem Zug, der ihn durch Budapest nach Arad führt. Nach einigen Seiten wird uns klar, dass Jacob ein Soldat ist, der nach Siebenbürgen geschickt wurde, um gegen die Rumänen im ersten Weltkrieg zu kämpfen. Doch sein Alltag als Soldat ist für Jacob eine Quelle des Lebens und der Menschlichkeit. Der Krieg hat für ihn keine Bedeutung. Als er auf einen Gefangenen nicht schießen kann lässt er ihn stattdessen gehen. Das Leben findet selbst inmitten des Grauens des Krieges seinen Weg, und als Jacob bei einer sächsischen Bauernfamilie untergebracht wird, beginnt eine ihm unbekannte Reihe an Geschichten.
“Zwischen den Weidenzweigen am Ufer hatten sich tote Soldaten verfangen, Pferdekadaver, erschossene Hunde. Die Wiesen waren voller Papierbögen, Postkarten und den verstreuten Teilen einer Bibliothek. Zu Jacobs Überraschung darunter auch Diderot, Schiller, Goethe und Balzac. Sie sollten Feinde sein, und lasen doch dieselben Bücher”
In den nächsten Geschichten des Romans führen uns die Handlungsstränge durch ein siebenbürgisches Dorf in den 1930er Jahren, nach Hermannstadt in den 1970er Jahren und schließlich auf eine spanische Insel in der Gegenwart. Wir treffen die selbstbewusste und eigensinnige Henriette, den verzweifelten Vicco und die zurückgezogene Hedda. Die drei Figuren sind mit Jacob eng verbunden, und ihre Beziehungen zueinander sind vom Schicksal und der Geschichte geprägt. Henriette kommt auf eine merkwürdige Weise in den Besitz eines Ringes mit blauem Stein, und Hedda wurden nicht nur die Geschichten ihrer Oma hinterlassen, sondern auch eine mysteriöse Verbindung zu einer grausamen Vergangenheit.
rumänisch auf deutsch
Die rumänische Sprache spielt eine besondere Rolle im Leben der vier Hauptfiguren. “So tun, als ob es regnet” ist die direkte Übersetzung der rumänischen Redewendung “a se face că plouă”. Im Alltag wird dieser Satz benutzt, wenn jemand ganz bewusst so tut (und es allen klar ist), als ob er oder sie eine Frage nicht gehört hat, um zu vermeiden eine Antwort zu geben. In Iris Wolffs poetischer Übersetzung, spiegelt dies die Abwesenheit und das Entfernen von der Gegenwart wider, was für Jacob, Henriette, Vicco und Hedda typisch ist. Das Leben stellt eine Frage, während sie die Gegenwart und die Welt um sich herum ignorieren und ihren eigenen Weg gehen.
“Ihr Gesicht sah ernst aus, gefasst, dennoch konnte sich Henriette vorstellen, wie es war, wenn sie lächelte, und sie spürte den Wunsch, ihr etwas von dem, was sie beschäftigte, abzunehmen. Dann veränderten sich ihre Gesichtszüge, durch eine Beobachtung, eine Erinnerung. Möglicherweise war sie auch woanders, dachte an jemanden Bestimmten oder ins Ungefähre, und so waren vielleicht viele nebeneinander, in Gedanken, als ob es regnet.”
Geschichte neuentdeckt
Iris Wolffs Roman “Die Unschärfe der Welt” aus dem Jahr 2021 berührt zwar auch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, doch die historischen Ereignisse und die entscheidenden Jahre treten in “So tun, als ob es regnet” deutlicher hervor. Mich hat besonders fasziniert, dass der Text nur selten explizit darauf hinweist, in welchem Jahr wir uns befinden. Das hätte den Schock der Selbstentdeckung weggenommen. Henriettes Opa und seine Freunde besprechen die politischen Bewegungen der Zeit: “Anfang des Jahres sei in Deutschland ein neuer Reichskanzler ernannt worden, warf einer der Männer ein. Ihre Aussichten würden vielleicht wieder besser werden”. Wir ahnen langsam, wir befinden uns im Jahr 1933 und der neue Reichskanzler ist Adolf Hitler. Auf bessere Aussichten hat damals jeder gehofft, wir hoffen heute weiterhin, aber in die Zukunft kann niemand sehen.
als Schlusswort
In dieser erzählerischen Reise durch die Zeit und durch drei Europäische Ländern werden die Schicksale von Jacob, Henriette, Vicco und Hedda eng miteinander verwoben. Dennoch bleiben die kleinen Geheimnisse, die dem Leben Farbe verleihen, ungelöst. Woher stammt Henriettes blauer Ring? Wohin verschwindet das Fischerboot, das Hedda am Hafen sieht? Wir werden es nie erfahren, denn die Ereignisse im Buch und die Leben der vier Hauptfiguren ähneln einem Märchen. Sie waren einmal und sind doch nie geschehen. So begannen die rumänischen Märchen, die Hedda am Herz lagen.
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