Um ganz ehrlich zu sein, das Buch hätte ich mir nie ausgesucht. Aber so ist das Leben, das Schöne kommt sehr oft auch ungeplant. Eine Freundin von mir hat mir “Das Leben vor uns”, den historischen Debutroman von Kristina Gorcheva-Newberry in die Hand gedrückt, mit dem (starken) Hinweis ich soll ihn lesen und ihr berichten, wie ich ihn fand. Es sei sehr schön zum Lesen, aber es gäbe eine Dunkelheit, die sie nicht ertragen könnte. Es hat ein halbes Jahr gedauert, meine liebe Freundin, aber hier ist es. Und ich gebe dir Recht. Im Buch breitet sich eine Art von Finsternis aus, aber ich habe das Gefühl, dass sie sich woanders befindet, als du es wahrgenommen hast.
kurz zusammengefasst
“Das Leben vor uns” ist ein historischer Roman, doch die Geschichte, die er für uns enthüllt, ist noch sehr frisch. Das Buch erzählt von zwei Freundinnen die, in den letzten Jahren der Sowjetunion, sehr schnell Erwachsenen werden müssen. Anja und Milka leben in einer Stadt in der Nähe von Moskau und, wenn sie sich in der ersten Klasse kennenlernen, schnell Freundinnen werden. Milka, die aus schwierigen Verhältnisse stammt, findet oft Trost in Anjas Familie und verbringt ihre Sommer zusammen mit ihnen auf ihrer idyllischen Datscha (Ferienhaus auf dem Land). Die Mädchen wachsen unter blühenden Apfelbäumen auf, begleitet von der Musik von Freddie Mercury, und schmieden große Träume. Sie schwören, niemals zu heiraten, keine Kinder zu bekommen und stattdessen nach Paris oder Rom zu ziehen.
In 1984, bevor beide 16 werden, lernen sie Liebe kennen. Anja verfällt Trifonow, einem Klassenkameraden der angeblich mit Tschechow verwandt ist. Milka, hingegen, lebendig und mutig, verliebt sich in Lopatin, der aus einer Familie von ehemaligen Leibeigenen stammt. Doch im Winter 1985, als Gorbatschow an die Macht kommt, wird das Leben der beiden Mädchen auf tragische Weise verändert. Dennoch werden Träume wahr. Anja zieht nach Amerika um und, zwanzig Jahre später, versucht sie ihre zerbrochene Vergangenheit zu verstehen.
lebendige Geschichte
Was mich am Roman am meisten bewegt hat, ist wie wahrheitsgetreu die historischen Details beschrieben sind. Anjas und Milkas Aufwachsen wird vor dem Hintergrund der politischen Bewegungen und des aufgewühlten Volkes in den letzten Jahren der Sowjetunion eindrucksvoll erzählt. Die Jahre 1982, 1984 und 1985 sind nicht nur entscheidend für das Schicksal der beiden Mädchen, sondern spiegeln auch die Ereignisse im Leben des gesamten Landes wider. Mit dem Amtsantritt von Andropow im 1982, träumen Anja und Milka von einem Leben in Amerika. 1984, als Tschernenko Generalsekretär der KPdSU wird, werden beide junge Frauen. Das Jahr 1985 markiert schließlich eine tiefgreifende Veränderung in ihrem Leben. Doch das nehmen die Beiden nicht wahr, denn diese historischen Entwicklungen werden aus Sicht der erwachsenen Anja erzählt.
Wir betrachteten unsere damalige Regierung nicht einmal als Diktatur, wir nahmen die Dinge hin wie die unausweichliche Abfolge der Jahreszeiten: Pappelflaum und Apfelblüte im Frühjahr und die eiskalte, starre Blindheit des Schnees im Winter
Gleichzeitig liest sich das Buch wie ein Tagebuch des Alltages in der kommunistischen Diktatur und die wunderschöne Sprache schafft viel von der Atmosphäre. Bilder erscheinen fast vor den Augen. Ich selbst bin in den 90ern aufgewachsen, zwar nicht in Russland, sondern in Rumänien, einem Land, das fast ein halbes Jahrhundert dem kommunistischen Regime ausgesetzt war. 1989 erlangten wir unsere Freiheit, doch mein Leben wurde stets von den Geschichten meiner Oma begleitet, deren Leben von der Geschichte auf den Kopf gestellt wurde. Schwarz und Grau waren für sie Albträume, denn das waren die Farben ihrer Jugend. “Das Leben vor uns” zu lesen fühlte sich an einigen Stellen so an, als würde ich den Erzählungen meiner Oma lauschen.
Die meisten Frauen trugen Schwarz, Braun oder Grau, die einzigen Farben, die man in sowjetische Läden bekam, in denen die Kleiderauswahl sich seit der Revolution nicht geändert hatte
die Charaktere
Anja und Milka sind unzertrennlich und Milka spielt eine große Rolle im Leben von Anja. Wie Milka an einer Stelle meint, sie lesen die gleichen Bücher, sie gehen zur gleichen Schule, sie leben die gleichen Erfahrungen. Sie könnten ein und dasselbe Person sein. Doch Unterschiede sind erkennbar. Milka ist kritisch, stellt die großen Fragen des Lebens und will ihr eigenes Leben führen. “Wie erkennt man die Wahrheit” fragt Milka Anjas Oma. Anja hingehend lässt sich oft von Milka inspirieren.
Auch wenn keine Hauptfigur, ist meine Lieblingsfigur die Oma von Anja. Sie lebt mit Anja und ihre Eltern zusammen, kocht wunderbares Essen und erzählt Kriegsgeschichten, die einen zum Zittern bringen. Viel von der Atmosphäre wird alleine durch ihre Präsenz geschaffen.
Gebeugt, in zerlumpten Pullovern und den alten Stiefeln meines Vaters, mit langen grauen Haaren, die an beiden Seiten ihres runzligen Gesichts offen herabhingen, sah sie aus wie eine Hexe, die mit knotigen Fingern emsig die Deckel hob und wieder schloss
als Schlusswort
“Das Leben vor uns” erzählt eine düstere Geschichte. Aber vor allem, erzählt es von einer dunklen Vergangenheit. Als ich das Buch las, konnte ich bereits erahnen was Milka und Anja durchgehen würden. Tragisch, aber letztendlich fiktiv. Doch die 80er waren sowohl in der Sowjetunion, als auch in Rumänien keine Fiktion. Es war eine Zeit der Unterdrückung, der Repression und des Leidens. Die Realität dieser Jahre war geprägt von politischem Druck, Mangel an Freiheit und wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Aber hier bin ich und schreibe frei über eine Zeit, die nicht frei war. Und da bist du und liest frei über eine Zeit, die nicht frei war. Den Roman, meinen Text und dich als Lesende, sehe ich als eine Erinnerung an diejenigen, die gelitten haben damit wir heute frei sein können.
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