Wie alle bedeutungsvollen Bücher findet Hermann Hesses “Siddhartha” genau zur richtigen Zeit seinen Weg in unser Leben. Nur so kann es seine tiefen Schichten entfalten. Für mich war Mai 2024 der richtige Zeitpunkt, dieses Buch zu lesen, nachdem es zwei Jahre in meinem Regal stand. Ich habe das Gefühl, dass ich jetzt, bei der ersten Lektüre, einen Ankerpunkt gewonnen habe. Ich bin überzeugt, dass man in diesem Buch ein Echo dessen hört, was gerade im eigenen Leben passiert. Deshalb wird dieser Blogbeitrag keine Rezension oder objektive Darstellung des Buches sein, sondern ein Spiegel. Er wird einige Gedanken darstellen, die für mich momentan im Vordergrund stehen und die das Lesen dieses Buches kristallisiert hat. Beim nächsten Lesen werden meine Gedanken bestimmt eine andere Richtung einschlagen.
kurz zusammengefasst, auf 3 Ebenen
„Siddhartha“ kann man auf mindestens drei Ebenen lesen, denke ich. Zuerst ist da die Geschichte, was passiert. Ganz einfach gesagt, stellt das Buch die Selbstentdeckungsreise von Siddhartha dar, einem indischen Mönch, der die theoretische Lehre als unzureichend empfindet und in die Welt hinausgeht, um Erfahrungen zu sammeln. Auf seiner Reise begegnet er sieben wichtigen Figuren, die ihm verschiedene Facetten des Lebens näherbringen. Aus der Handlungsperspektive fand ich den Teil am spannendsten, in dem Siddhartha reich wird und seine Lehre fast vergisst. Hier habe ich mein eigenes Leben ganz gut erkannt und musste sogar lachen, weil alles so realitätsnah erzählt wird.
Die zweite Ebene ist wahrscheinlich die, auf der das Buch gemeint war. Die Geschichte enthält viel von der buddhistischen Philosophie, aber Hesse bietet seine eigene Interpretation davon an. Siddharthas Ziel ist Nirwana, die Oase der Ruhe und des Friedens, die nur die Erleuchteten erreichen können. Doch in der Welt wird er von Samsara abgelenkt, dem Kreislauf des Lebens und Leidens.
Ich habe das Buch allerdings eher auf seiner dritten Ebene gelesen. Jeder Satz, der die Buddhistische Lehre wiedergibt, oder der die Erfahrung Siddharthas darstellt habe ich auf mein Leben bezogen. Dabei fand ich immer wieder Parallelen zu meinen eigenen Lebenserkenntnissen. Es war, als ob das Buch meine innersten Gedanken und Gefühle widerspiegelte und mir neue Einsichten in meine eigene Reise zur Selbstentdeckung gab. Dieser persönliche Bezug machte das Lesen von „Siddhartha“ zu einer tiefgreifenden Erfahrung für mich.
siddharthas Lehrerin und Lehrer
Was mich am meisten am Buch berührt hat, war dass Siddhartha in seinem Leben ständig etwas Neues lernt und dadurch seine Sicht auf sich selbst immer wieder verändert. In seinem Werdegang versteht Siddhartha, dass er nicht nur einer ist, sondern viele. Das Vergehen der Zeit ist bedeutungslos und alles, was am Ende bleibt, sind die endlose Facetten, die er von sich selbst entdeckt hat und die viele Erfahrungen, die er gemacht hat.
Auf seinem Weg zum Erwachen hat Siddhartha sechs Lehrer und eine Lehrerin. Der erste Lehrer ist sein Vater, der Brahmane, der ihm die Grundlagen des Buddhismus beibringt. Als er beginnt, nach mehr zu streben und sich fragt “wo war dieses Ich, dies Innerste, dies Letzt”, folgt er den Samanas, derer Ältester dem Jungen “Entselbstung und Versenkung” beibringt. Auch die Samanas verlässt Siddhartha, um die Lehre von Gotama, dem Vollendeten Buddha, zu hören. Doch Siddhartha spürt, dass wahre Erleuchtung nicht durch das bloße Nachahmen eines anderen erreicht werden kann.
An diesem Punkt entscheidet Siddhartha, in die Welt zu gehen und weitere Erfahrungen zu sammeln. Die vierte Lehrerin ist die Kurtisane Kamala, die ihm die Kunst der Liebe und des Genusses beibringt. Materielle Erfolg und die Kunst des Handles lernt er von Kamaswami, einem wohlabenden Kaufmann.
Nachdem er diese Phase der Sinnesfreuden und des materiellen Erfolgs hinter sich lässt, zieht Siddhartha weiter. Schließlich begegnet er dem Fährmann Vasudeva, der zu seinem sechsten Lehrer wird. Vasudeva lehrt Siddhartha die Weisheit des Flusses und zeigt ihm wie er dem Fluss, seinem letzten Lehrer, zuhört. Vom Fluss lernt Siddhartha, dass alles sich bewegt und doch gleichbleibt, und dass die Zeit keine Bedeutung hat. Er erkennt, dass das Ziel seiner Suche nicht außerhalb von ihm liegt, und dass man dem Ich nicht entfliehen kann.
kein Roman, sondern eine Dichtung
“Siddhartha” ist einem Roman ähnlich, wird allerdings als Dichtung bezeichnet. Das Werk hat philosophische Tiefe und ist reich an Symbole und Metaphern. Jeder Mensch, der das Buch liest, findet darin unterschiedliche Bedeutungen, je nachdem wo er sich gerade in seinem Leben befindet. Mich hat die Idee der Änderung fasziniert. In viele Romane und Geschichten wird ein bestimmter Moment, einige Tage oder einige Jahre im Leben eines Charakters erzählt. Die Leserin lernt da was daraus, und das Leben geht weiter. Allerdings ist in “Siddhartha” alles etwas subtiler. Wir beobachten, wie manches für Siddhartha wichtig wird und dann wieder an Bedeutung verliert. Das Leben, wie der Fluss, läuft weiter, ändert sich weiter, und wenn wir denken, dass wir alles wissen, was wir im Leben brauchen, dann ist die Täuschung am größten.
als Schlusswort
Das Buch hat nur 120 Seiten, aber ich habe fast 2 Wochen gebraucht, um es zu lesen. Besonders am Ende, als Siddhartha versteht, was der Fluss ihm sagt, steckt jeder Satz voller Weisheit. Aber man zieht aus “Siddhartha” keine trockene Lehre. Es lädt einen vielmehr dazu ein, tief darüber nachzudenken und die eigenen Erfahrungen in das Verständnis des Buches einzubringen. Ich sage immer, dass der Fluss Siddharthas letzter Lehrer ist, aber das klingt immer noch ziemlich abstrakt. Vielleicht kann ich es besser verstehen, wenn ich das nächste Mal mit meinem Hund entlang der Donau gehe.
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