Ich habe “Die Wintermädchen”, das Buch von Cristina Sanchez-Andrade extra für den Winter aufbewahrt. Als ich mich entschieden habe das Buch zu lesen, wusste ich nicht viel darüber. Nur, dass es um zwei Frauen geht, die in ihren Heimatort zurückkehren und ein Geheimnis mit sich tragen. Dieses Jahr habe ich auf einem Kurs in Cambridge die Gelegenheit gehabt, die Autorin persönlich kennenzulernen. Die Leidenschaft, mit der Cristina über Shirley Jackson und Flannery O’Connor sprach, ist was mich dazu bewegt hat, das Buch zu lesen. Die düstere Tiefe von Jacksons Geschichten und der verstörende Humor von O’Connor finden sich auch in “Die Wintermädchen” wieder. Naja, habe ich mir in November gedacht, wird schon bestimmt irgendwie um Winter gehen. Was ich jedoch nicht erwartet hatte, war, dass es sich dabei um den Winter der menschlichen Seelen handelt.
kurz zusammengefasst
“Aber jetzt sind wir hier, und hier gibt es Wolfsmenschen, Gespenster und arme Seelen.” Dieser ist kein Eröffnungssatz, aber ich finde es ist die perfekte Beschreibung für das, was im Buch geschieht und für die erzählerische Atmosphäre. Dieses “hier” ist Tierra de Cha, ein Dorf nahe A Coruña, im spanischen Galicien. Hier, in diesem mysteriösen Ort, kehren die Schwester Saladina und Dolores, nach etwa 20 Jahre Abwesenheit zurück. Doch Tierra de Cha ist nicht nur ihr Heimatsort, sondern auch ein Ort, wo die Menschen ihre Gehirne verkaufen, eine Frau dem Tod trotzt und eine Witwe ihrem verstorbenen Ehemann treu bleibt.
Sala und Dolores sind die Wintermädchen des Romantitels, aber das ist nicht nur ihre Geschichte, sondern auch die Geschichte des Dorfes, seiner Bewohner und des Großvaters der zwei Schwestern. 1936, als der Spanischer Bürgerkrieg ausbrach, war die Beziehung zwischen Don Reinaldo, dem Großvater, und den Dorfbewohnern bereits angespannt. Die Erinnerungen der beiden Mädchen an diese Zeit sind bruchstückhaft: “Die Mädchen verstanden nicht, was geschehen war, und ein paar Tage später war der Großvater wieder da, schwach und ausgemergelt, und hatte sie angeschrien, dass sie fliehen müssen”. Wie viele andere Kinder, sind sie nach England geschickt worden. Sie haben Englisch und Nähen gelernt, Dolores hat geheiratet und 20 Jahre später kehren sie zurück, um ein Geheimnis zu vergessen und die Lösung eines anderen Geheimnisses zu finden.
die Art der Erzählung
Tierra de Cha ist ein Ort, in dem die Grenzen zwischen Realität und Magie verschwimmen und die Atmosphäre von Geheimnissen durchdrungen ist. Doch alles wird so direkt und einfach erzählt, als ob man sich nicht wundern soll, dass Magie ein unmittelbarer Teil des Lebens ist. “Während des Krieges ging in Tierra de Cha keine Uhr richtig. Wenn es auf einer Seite des Ortes sechs Uhr schlug, war es auf der anderen Seite Viertel nach zwei.” Die Uhren können natürlich kaputt sein, denkt die rationale Stimme, aber das wäre eine zu einfache “Erklärung” für das, was im Dorf vorgeht.
Die Art der Erzählung hat mich an Märchen erinnert. Die Ereignisse sind nicht unbedingt absolut unmöglich, so wie z.B. ein Pferd, das sprechen kann, aber es gibt eine gewisse Unsicherheit, dass die Geschichte von Magie umhüllen lässt. “Eine Frau mit runzligem Gesicht und einem winzigen, knorrigen Körper, beinah eine Zwergin, die nach Rauch und alte Decken roch” könnte einfach eine alte Frau sein, die wegen unbeendeter Geschäfte nicht sterben kann. Aber sie könnte auch sehr gut eine Baba Jaga sein, die in Märchen immer alt ist und magische Kräfte besitzt.
die Charaktere
Sala und Dolores sind beinahe Fremde im eigenen Dorf, da sie ihr Leben größtenteils in England verbracht haben. Dolores war mit einem Fischhändler verheiratet, aber es ist zu Beginn nicht ganz klar, was mit dem Ehemann passiert ist. Über dieses Thema sprechen die Schwester nur selten und Sala sagt dazu nur knapp “wir haben getan, was wir tun mussten”. Dolores träumt davon, Schauspielerin zu werden, aber gleichzeitig kann und will sie ihre Schwester nicht alleine lassen. Sala hingegen träumt von Liebe und Schönheit und sieht in Señor Tiernoamor, dem Zahnmechaniker, die Möglichkeit, dass ihre Träume erfüllt werden können.
Als Sala und Dolores in Tierra de Cha zurückkehren, nennen sie die Dorfbewohner Wintermädchen. Der Priester, der Zahnmechaniker, der Bedarfslehrer, die Witwe, alle benutzen diesen Namen und alle wollen nicht über ihren Großvater sprechen. In den Erinnerungen der Mädchen kochte Don Reinaldo Kräutertee in einem Topf auf dem Herd, konnte die Leiden der Menschen verstehen und heilen, und hatte ein außergewöhnliches Interesse an den Gehirnen der Menschen.
“Er war davon überzeugt, dass die Ursache für jedes Leiden in einem selbst lag. All das hatte mit etwas zu tun, was einem irgendwann mal passiert war und was nicht geklärt werden konnte. Und dieses Etwas verhärtete sich mit der Zeit, verkapselte sich und wurde schließlich krankhaft.”
Alle anderen Figuren sind fast einfache Skizzen, die eher an Figuren aus Märchen erinnern als an reale Menschen. Don Manuel, der Priester, kündigt sein Ankommen mit seinem spezifischen Geruch an: “Eines Tages stieg ihnen der üble Geruch nach Mottenpulver und verschwitzter Kleidung in die Nase”. Señor Tiernoamor, der Zahnmechaniker, weckt mit seinem etwas verstörenden Interesse an den Zähnen und Gebisse der Menschen eine gewisse Unruhe. Er vermag, Zähne schöner zu machen, doch woher er seine Materialen bezieht, ist sein dunkles Geheimnis. Die Ehe zwischen Tio Rosendo, dem Bedarfslehrer, und der Witwe Meis ist von einer eigenartigen Dynamik ausgeprägt: seine Frau bleibt auch nach der Heirat immer noch die Witwe.
ein tolles Winter Buch
Es wird nie ganz klar, warum Sala und Dolores von den Dorfbewohner Wintermädchen genannt werden. Ich habe auch nicht das Gefühl bekommen, dass die Erzählung im Winter stattfindet. Es ist dennoch ein tolles Winter Buch. Das märchenhafte Gefühl der Geschichte und die schrägen Charaktere, die im dem Dorf wohnen, jeder mit seinen Geheimnissen und einer verborgenen Dunkelheit, verleihen dem Roman die Wärme, die man in den Winternächten sucht. So fängt das Buch die Magie des Winters ein.
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