Für mich war “Die Geschichte der getrennten Wege” der Moment, in dem sich die neapolitanische Tetralogie zu einem Kreis zu schließen begann. Eine Freundin, der ich “Meine geniale Freundin” empfohlen hatte, begann den Roman kurz nachdem ich ihn beendet hatte. Aber während ich eher zu denjenigen gehöre, die langsam und bedächtig lesen, verschlang sie alle vier Bände mit ungebremster Begeisterung. Dadurch hinkten unsere Gespräche und Diskussionen ein wenig hinterher. Sie drehten sich mehr um die Figuren: Lila oder Elena? Was geht eigentlich in Elena vor? Und wie war das nochmal mit dem Sommer am Meer in Ischia?
Wenn mir “Die Geschichte eines neuen Namens” zum ersten Mal gezeigt hatte, wie unterschiedlich die einzelnen Bücher sein können, so begann ich im dritten Band das Paradox zu verstehen: Je stärker sich die individuellen Leben verändern, desto deutlicher wiederholt sich die große Geschichte. “Die Geschichte der getrennten Wege” führt die Verwandlungen von Lila und Elena weiter, erzählt aus der Perspektive einer Elena, die zwar versteht, aber nicht dem Abgrund entkommt, der sich zwischen ihr und Lila immer mehr auftut.
“die geschichte der getrennten wege” von elena ferrante schließt einen Kreis
Ich hatte mich tatsächlich davongemacht. Aber nur, um in den darauffolgenden Jahrzenten festzustellen, dass ich mich geirrt hatte, dass dies nur eine Kette mit immer größeren Gliedern war: Der Rione verwies auf die Stadt, die Stadt auf Italien, Italien auf Europa, Europa auf den ganzen Planeten. Und heute sehe ich das so: Nicht der Rione ist krank, nicht Neapel, die ganze Erde ist es, das Universum ist es, oder die Universen.
Wenn ich auf die drei Romane zurückblicke, die ich bisher gelesen habe, scheint es mir, als wären die ersten beiden nur das Vorspiel zur eigentlichen Geschichte – jener, die sich in “Die Geschichte der getrennten Wege” entfaltet. Der erste Band, der sich auf die Kindheit von Lila und Elena sowie auf die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen im Rione konzentriert, legt das Fundament für ihre Leben und ihre Beziehung. Der zweite Band lässt sich fast schon eigenständig lesen, solange man die Namen der Figuren einordnen kann. Aber der dritte Band ist ohne den ersten schlicht nicht zu verstehen. Hier gibt es Szenen, die direkt auf den Anfang verweisen: der Rione, die Spannungen zwischen den Familien, die Art und Weise, wie Lila und vor allem Elena das Muttersein und die Rolle der Frau erleben. Alles wiederholt sich, doch das, was vorher von außen sichtbar war, nun von innen erlebt wird.
Die erste Szene des Bandes knüpft sofort an die Anfangsszene von “Meine geniale Freundin” an. Elena erinnert sich an das letzte Mal, als sie Lila gesehen hat, und an ihr Verdacht, Elena wolle ein Buch über ihr Leben schreiben: „Du musst uns in Ruhe lassen, Lenu. Du musst uns alle in Ruhe lassen.“ Elena bestreitet – nicht zum ersten Mal – jemals so etwas im Sinn zu haben, und die beiden trennen sich im höhnischen Lachen Linas.
Die Erzählung springt zurück an das Ende der Sechzigerjahre, zu einem Zeitpunkt, als Elena gerade ihre erste Buchveröffentlichung diskutiert – und Nino auftaucht, um seine unendliche Bewunderung auszudrücken. Lenu bleibt nicht unberührt, ist aber bereits mit Pietro Airota verlobt, der für sie die Verkörperung des Traums ist, dem Rione zu entkommen. Elena tritt in die Familie Airota ein, in der Vater, Mutter und Schwester allesamt Intellektuelle und Kulturschaffende sind, zieht nach Florenz und träumt von einer literarischen Laufbahn. Doch Pietro, der Universitätsprofessor, unterscheidet sich in seinen Vorstellungen nicht wesentlich von den Männern aus dem Rione, und die Schattenseiten des lange ersehnten Lebens als Ehefrau und Mutter zeigen sich rasch.
Lila hingegen bleibt im Rione, engagiert sich in Arbeiter- und politischen Bewegungen, wendet sich dann aber von ihnen ab, und beginnt gemeinsam mit Enzo bei IBM eine Karriere in der Computertechnik. All die Zeit betrachten Lila und Lenu ihr Leben durch die Augen der anderen: sie enttäuschen sich und unterstützen sich, verraten sich selbst und auch die andere.
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zurück in Rione – wer bleibt und wer geht?
Zunächst hatten mich Adele und ihre in meinen Augen sehr belesene Freunde und dann der Mann mit der starken Brille eingeschüchtert. Ich war wieder zu dem eifrigen Mädelchen aus dem Rione geworden, zu der Pförtnertochter mit dem Akzent aus dem Süden, die selbst erstaunt war, dass sie an diesem Ort gelandet war, um die die junge, gebildete Schriftstellerin zu spielen.
Elena, mehr noch als Lila, möchte schon seit ihrer Kindheit dem Rione entkommen und weiß, dass die Schule ihre einzige Chance ist. Sie geht zum Studium nach Pisa, veröffentlicht ein Buch und zieht nach ihrer Heirat nach Florenz. Doch die Anziehungskraft und die Last des Viertels lassen sie nicht los – vor allem die Spur, die es in ihrem Inneren hinterlässt und die Elena ihr Leben lang mit sich trägt. Diese Spur ist verkörpert in der Beziehung zu ihrer Mutter und zu Lila. Ihre Mutter behandelt Elena distanziert, fast verächtlich, auch wenn sie sich nach der Nachricht ihrer Schwangerschaft doch wieder an sie wendet. Mit Lila spricht sie nie über die Gedanken, die ihren Kopf füllen und die in den frühen siebziger Jahren den Ton in der Kulturszene angeben. Doch in ihrer Sehnsucht, sich in den Schatten von Lilas Intellekt zu schleichen, findet Elena den Stoff für ihr zweites Buch.
An dieser Stelle wird auch der Titel aufschlussreich: Im Italienischen heißt der Roman “Storia di chi fugge e di chi resta”, also „Die Geschichte derer, die fliehen, und derer, die bleiben“. Im Deutschen wurde daraus “Die Geschichte der getrennten Wege”. Schon die Übersetzung verschiebt die Perspektive: von der Spannung zwischen Flucht und Verbleib hin zu einem Auseinanderdriften zweier Lebenslinien.
Elena ist diejenige, die den Rione verlässt. Lila bleibt nur noch eine körperlose Stimme am Telefon. Lila hingegen bleibt – und entdeckt, dass die Stabilität, die sie im Viertel ihrer Kindheit suchte, Unsicherheit, Kämpfe und Kompromisse bedeutet. Nach der Trennung von Stefano wird sie von ihrer Familie verstoßen, vom Viertel zurückgewiesen, doch sie lässt sich nicht beirren. Sie will zurück. Lilas Motive und Taten nach ihrer Rückkehr bleiben voller Lücken, Elenas Erzählung wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Und eine der größten Fragen lautet, ob „Weggehen“ tatsächlich bedeutet, frei zu werden, und ob „Bleiben“ nicht in Wahrheit heißt, die Last aller weiterzutragen – vor allem die eines Ichs, das kaum zu ertragen ist.
das Leere in der Mitte
Meine Lieblingsstelle im Buch ist die Zeitspanne von fünf Jahren zwischen Elenas Hochzeit und ihrer Rückkehr in den Rione, eine Phase, in der die beiden Freundinnen einander überhaupt nicht sehen. Sie sprechen nur am Telefon: “Als sie auflegte, ließ ihre Stimme eine Wolke aus Bildern und Geräuschen der Vergangenheit zurück, die mir noch stundenlang im Kopf blieb“. Über Lila erfahren wir in dieser Zeit kaum etwas, nur kurze Gesprächsfetzen und Elenas widersprüchliche Eindrücke. Nach der Geburt von Dede erscheint Lila ihr wie eine dunkle Macht, die einen Fluch über sie gelegt hat. Als Elena später mit dem Feminismus in Berührung kommt, sieht sie in Lila die Verkörperung einer Theorie, die sonst nur leere Worte bliebe. Lilas Körper, Lilas Anwesenheit, selbst aus der Ferne, verwandeln die abstrakten Ideen in Elenas Kopf in konkrete Worte, die erneut den Kern eines Romans bilden. Doch all das spielt sich in Elenas Innerem ab. Lila selbst öffnet sich kaum, und wenn, dann in der ihr eigenen, ironisch-bissigen Weise.
Und gerade diese Lücken lassen viel Raum für Diskussionen. Ein Thema in unsere Gespräche über das Buch drehte sich um die Frage, warum Elena so besessen von Nino ist. Unsere Theorie – auf die wir uns mehr oder weniger einigen konnten – lautet, dass Nino für Elena eine weitere Verkörperung des Viertels ist, eine weitere Rückkehr an einen Ort, dem sie längst den Rücken gekehrt hat. Elena kennt Ninos Charakter sehr genau, doch sie belügt sich selbst. Die gesamte Tetralogie, vielleicht sogar bis in den letzten Band hinein, lebt von dieser Spannung: dem Wunsch, zu fliehen, und der Unmöglichkeit, zu entkommen. Es geht dabei nicht unbedingt um die eine, die bleibt, und die andere, die geht. Vielmehr zeigt sich eine Doppelnatur: ein Wesen mit zwei Gesichtern, das zugleich beides ist: eines dem Vergangenen zugewandt, das andere der Zukunft.
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