Ich werde nicht so tun, als hätte ich diesen Roman vollständig verstanden. „Die Vegetarierin“ von Han Kang ist kein Buch, das man zur Entspannung vor dem Schlafengehen liest. Es fordert Mut, Geduld – und vor allem Einfühlsamkeit. Vielleicht hast du schon gehört, worum es geht: Eine Frau entscheidet eines Tages, kein Fleisch mehr zu essen. Doch das ist nur die Oberfläche. Wer eine Geschichte über Vegetarismus erwartet, wird schnell merken, dass es hier um weit mehr geht. Han Kang erzählt nicht von einer Ernährungsumstellung. Oder nicht nur. Sie erzählt vor allem über eine Rebellion gegen Erwartungen, gegen Kontrolle, gegen eine Welt, die sich das Recht nimmt, über Körper zu bestimmen. Die Protagonistin Yeong-Hye zieht sich dem Kampf immer weiter zurück, und ihr Körper wird zu einem Schauplatz, den niemand wirklich versteht, obwohl sie so tun, als ob sie alle wissen, was für sie am besten ist. Aber für das Beste ist schon zu spät.
die Vegetarierin, ihre Geschichte
Das Buch ist in 3 Teile gegliedert. Der erste Teil, „Die Vegetarierin“ erzählt wie Yeong-Hye eines Morgens beschließt kein Fleisch mehr zu essen, und wie ihre Familie dazu reagiert. Die Geschichte wird aus der Perspektive ihres Mannes erzählt, der sich schnell als eine unangenehme Figur entpuppt. Er beschreibt seine Frau mit distanzierter Gleichgültigkeit, sieht sie als unscheinbar, als selbstverständlich – bis ihr Entschluss, sich anders zu ernähren, seinen geordneten Alltag stört. Ihre Familie reagiert mit wachsender Aggression, unfähig zu begreifen, warum sie sich dem „Normalzustand“ widersetzt. Ihre Weigerung, Fleisch zu essen, wird als Ungehorsam interpretiert, als Provokation, die nicht geduldet werden kann. In diesem Moment wird Yeong-Hye nicht mehr als Individuum mit eigenen Entscheidungen wahrgenommen, sondern als jemand, die „zurechtgebogen“ werden muss.
Dieser erste Teil ist schnell und realistisch erzählt. Doch in den nächsten beiden Teilen verändert sich die Erzählweise spürbar. Der zweite Teil, „Der Mongolenfleck“, wird aus der Perspektive von Yeong-Hyes Schwager erzählt, einem Videokünstler. Er sieht in ihr eine verborgene Schönheit, eine Art faszinierende Fremdheit – doch seine Faszination ist egoistisch. Was zunächst wie Bewunderung erscheinen mag, entpuppt sich schnell als Ausbeutung.
Der letzte Teil, „Bäume in Flammen“, hat mich am tiefsten berührt. Hier erzählt Yeong-Hyes Schwester In-Hye die Geschichte weiter. In-Hye ist die Einzige, die sich fragt, ob ihre Schwester in ihrem Rückzug vielleicht eine Wahrheit erkennt, die niemand sonst begreifen kann. Doch auch sie steht hilflos vor Yeong-Hyes langsamen, endgültigen Ablösung von der Welt. In diesem letzten Abschnitt wird das Buch am rätselhaftesten auch am eindringlichsten – eine Geschichte, die nicht verstanden, sondern gefühlt sein möchte.
Männer und Körper
Seit Beginn unserer Ehe trug sie zu Hause nie einen BH. Selbst wenn ich sie in den Sommermonaten davon überzeugen konnte, einen zu tragen, um die Brustwarzen zu bedecken, dann öffnete sie den Verschluss, sobald wir das Haus verlassen hatten. Sie erklärte mir, ein BH würde sie einengen, ihre Brüste quetschen. Ich konnte das natürlich nicht nachvollziehen, da ich noch nie einen getragen hatte.
Diese Passage stammt aus der Perspektive von Yeong-Hyes Ehemann – und sie verrät viel über seine Haltung zu ihr. Ihr Körper gehört in seinen Augen nicht ihr allein. Dass sie sich weigert, ein Kleidungsstück zu tragen, das für ihn gesellschaftlich notwendig erscheint, empfindet er als störend, als eine Grenzüberschreitung. Es geht nicht darum, ob sie sich wohlfühlt, sondern darum, ob sie seinen Vorstellungen entspricht.
Doch ihr Mann ist nicht der Einzige, der glaubt, über Yeong-Hyes Körper bestimmen zu dürfen. Auch ihr Vater sieht es als sein Recht an, ihr Essen aufzuzwingen. In einer verstörenden Szene versucht er, sie mit Gewalt zum Fleischessen zu zwingen, als wäre ihr Verzicht eine Bedrohung, die unterbunden werden muss. Die Männer in Yeong-Hyes Leben – ihr Vater, ihr Ehemann, später ihr Schwager – behandeln sie nicht als eigenständige Person, sondern als eine Projektionsfläche ihrer Wünsche und Erwartungen. Ihr Körper soll nicht ihr gehören, sondern denen, die glauben, ein Anrecht darauf zu haben. Doch Yeong-Hye entzieht sich dieser Kontrolle – und das macht sie in den Augen ihres Umfelds unverständlich, gefährlich, letztlich „krank“.
das Geträumte und das Versteckte
Yong-Hyes Stimme, die sie im Halbschlaf zu hören glaubte, klang zunächst leise und angenehm, wurde dann kindlich, um zuletzt in unverständliches Gebrabbel überzugehen. Ein Ekelgefühl, so stark, wie sie es noch nie empfunden hatte, ließ sie hochschrecken. Dann fand sie sich plötzlich vor dem Spiegel im Bad wieder. Aus ihrem linken Auge lief Blut, das sie schnell wegwischte.
Im dritten Teil des Buches nimmt die Geschichte eine unerwartete Tiefe an. Während es im ersten Teil vordergründig um Essen geht und im zweiten um den Körper, lässt sich der dritte nicht mehr so eindeutig greifen. Traum und Realität verschwimmen, und In-Hye beginnt, sich Fragen zu stellen, die sie lange verdrängt hat. Ihre Schwester verändert sich auf eine Weise, die sie nicht mehr begreifen kann – und doch spürt sie eine tiefe Verbindung zu ihr. Yeong-Hyes immer weiter fortschreitender Rückzug bringt In-Hye dazu, auch ihr eigenes Leben zu hinterfragen: Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstaufgabe und Selbstbefreiung?
„Die Vegetarierin“, und insbesondere der letzte Teil, erinnert stark an Kafka. Für Yeong-Hye wirkt die Welt fremd, als sie sich von ihrem Körper, von der Sprache und der Realität selbst löst. Und gerade durch In-Hyes Perspektive wird die Geschichte etwas greifbarer. Sie ist die einzige, die Yeong-hye nicht verurteilt, die nicht versucht, sie zu kontrollieren oder für eigene Zwecke zu nutzen. Dennoch bleibt sie hilflos, gefangen in gesellschaftlichen Normen, die sie selbst nie infrage gestellt hat. Am Ende bleibt „Die Vegetarierin“ ein Buch voller Rätsel, ein Fiebertraum aus Bildern und Empfindungen, der sich nicht ganz und voll auflösen lässt.
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