Fast ein Jahr nach der Lektüre von “Meine geniale Freundin”, dem ersten Band der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante, habe ich mich endlich entschlossen, mit dem zweiten Band weiterzumachen. “Die Geschichte eines neuen Namens” knüpft genau dort an, wo der erste Band endete: Bei Lilas Hochzeit mit Stefano. Fassungslos beobachtet Lila, wie die von ihr selbst gefertigten und ihrem Ehemann geschenkten Schuhe mit Stolz von Marcello Solara, dem Camorrista aus dem Rione, getragen werden. Elena stellt sich vor, wie Lila ausrastet und ihre eigene Hochzeit verlässt – doch Lila reagiert erst später und auf eine Weise, die Elena sich nie hätte ausmalen können.
Der zweite Roman der Tetralogie hat mich überrascht – durch seine neue Thematiken und die neuen Facetten, die sowohl Lila als auch Elena in ihren Persönlichkeiten zeigen. Natürlich stehen die beiden Freundinnen weiterhin im Mittelpunkt der Geschichte, und Lila bleibt die zentrifugale Kraft des Rione, doch der Hintergrund verändert sich. Im ersten Band lag Elenas Aufmerksamkeit auf ihrer Kindheit und Jugend im Rione, auf der Bedeutung von Bildung und auf ihrer Faszination für Lila. Im zweiten Band verändert sich diese Perspektive parallel zu den neuen Interessen, die eine heranreifende Elena entwickelt.
die Geschichte eines neuen Namens für Lila
Ab dem Moment, in dem Lila erkennt, dass Stefano ihr Vertrauen verraten hat, zerplatzen alle Hoffnungen, die sie vielleicht gehegt hatte. Er hatte Marcello die von ihr gefertigten Schuhe überlassen. Nicht, dass Lila in Stefano sehr verliebt gewesen wäre, aber sie sah in ihm eine Möglichkeit, sich vor Marcello und dessen Bruder Michele zu schützen, und ihre Familie aus der Armut zu holen. Doch ich glaube nicht, dass sie sich vorstellen konnte, dass sie selbst – Lila – und das Bild, das sie von sich hatte, zerbrechen würden. Lila hatte ihre Ausbildung aufgegeben, war aber nicht bereit, dazu zu verzichten, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Für Lila wird der neue Name, Carracci, zu einer Bürde – ein Symbol für den Versuch, sie in eine Rolle zu zwängen, die ihrer Natur widerspricht.
Während wir mit Pinsel und Farben hantierten, erzähöte sie mir, sie sehe in dieser Namensformel nun eine Umstandsbestimmung der Richtung, gaz als wäre Cerullo verheiratete Carracci so etwas wie Cerullo geht in die Carracci ein, stürzt hinein, wird davon aufgesogen, lost sich darin auf. Die besiegte Rafaella Cerullo hatte ihre Form verloren und sich in den Konturen Stefanos aufgelöst, dessen untergeordnete Emanation sie geordnet war: Signora Carracci.
Durch das Selbstbild, das Lila für sich entwirft, erzählt der erste Teil des Romans die Geschichte ihres neuen Namens: Signora Carracci. Über ein Hochzeitsfoto von Lila im Porträtformat kleben Lila und Elena lange, schwarze und bunte Streifen, bis nur noch ein Auge und ein Schuh sichtbar bleiben – ihr Lebensatem und die materiellen Werte ihrer Familie und ihres Ehemanns. Frau Carracci beginnt bereits, die Kontrolle zu übernehmen.
Der Körper der abgebildeten Lila als Braut war grausam zerschnitten. Ihr Kopf war großteils verschwunden, ebenso ihr Bauch. Was blieb, war ein Auge, die Hand, in die sie ihr Kinn stürzte, der leuchtende Fleck ihres Mundes, Schrägstrifen ihres Oberkörpers, die Linie der überschlagenen Beine, die Schuhe.
die Geschichte eines neuen Namens für Nino
Der erste Teil des Romans konzentriert sich auf Lila und darauf, wie sie sich aus Elenas Perspektive in ihre neue Rolle als Frau Carracci einfügt. Lila bringt Ideen für das neue Schuhgeschäft der Marke Cerullo ein, das finanziell von den Solara-Brüdern unterstützt wird, und ist sehr aktiv in der Leitung der beiden Metzgereien ihrer neuen Familie. Doch die Beziehung zu Stefano bleibt oberflächlich und geschäftsmäßig. Lila weiß genau, wie sie Stefano für sich einnehmen kann, und scheint ihre einstige Leidenschaft für Bücher und Bildung völlig vergessen zu haben.
Im zweiten Teil des Romans wechselt die Szenerie auf eine Insel am Strand, wo Elena und Lila den Sommer verbringen. Hier werden die Beziehungen zwischen den Figuren komplizierter, und die bis dahin nur angedeuteten Spannungen treten offen zutage. Hier taucht auch Nino Sarratore wieder auf, dessen Anwesenheit das ohnehin fragile Gleichgewicht zwischen den beiden Freundinnen durcheinanderbringt. Für Elena bleibt Nino das intellektuelle Ideal, das sie bewundert und in das sie bereits verliebt war. Für Lila hingegen wird Nino zu einer Gelegenheit, gegen die Starrheit ihrer Ehe zu rebellieren, aber auch zu einem Funken, der ihre frühere Leidenschaft für Ideen und Gespräche wieder entfacht.
Nino hatte im vorherigen Roman keine besonders wichtige Rolle gespielt. Seine Familie hatte das Rione verlassen, um einem Skandal zu entgehen, der durch die Untreue seines Vaters Donato ausgelöst wurde – dieser hatte eine Affäre mit einer Witwe aus dem Viertel. Doch ironischerweise wächst Nino in eine Rolle hinein, der er nicht entkommen kann. Sein Verhalten in “Die Geschichte eines neuen Namens” spiegelt das Thema der geerbten Identität wider – Nino trägt zwar einen neuen Namen, doch die ererbten Schwächen kommen unweigerlich zum Vorschein. Ironischerweise erkennt Lila seinen Charakter sehr deutlich und warnt Elena, doch diese bleibt blind gegenüber dem, was im Verlauf der Geschichte immer offensichtlicher wird.
Nichts an Nino ähnelte seinem Vater: nicht die Statur, nicht das Gesicht, nicht die Umgangsformen und auch Stimme und Blick nicht. Er war eine aus der Art geschlagene, süße Frucht. Wie hinreißend er aussah mit seinen langen, struppigen Haaren. Wie sehr er sich von jeder anderen männlichen Gestalt unterschied.
die Geschichte eines neuen Namens für Elena
Und das Unvermeidliche geschieht. Aus Elenas Perspektive „stiehlt“ Lila ihr Nino, und Elena beginnt, sich als einen notwendigen Winkel in einem komplizierten Beziehungsdreieck zu sehen, in dem sie nie den Platz hat, den sie sich wünscht. Lila findet aber in Nino auch keine Befreiung aus ihrer unglücklichen Ehe. Die Beziehung, intensiv und destruktiv, bietet ihr weder Stabilität noch Frieden. Gleichzeitig versucht ein wütender Stefano die Kontrolle über Lila zurückzugewinnen, was zu Momenten von Spannungen und Gewalt führt.
Für Elena wird dieses Kapitel zu einem Wendepunkt. Sie sieht in Lila eine Kraft, die sich alles aneignet, was Elena sich wünscht – sei es Ninos Aufmerksamkeit oder eine Art von Freiheit, die Elena für sich selbst als unerreichbar betrachtet. Sie stürzt sich vollständig in ihr Studium. Ihre Energie richtet sie darauf, zu schreiben und einen Weg zu schaffen, der sie endgültig aus dem Schatten ihrer Freundin befreit.
Ich lebte in ihnen, kaum wahrnembar. Ich liebte sie beide, daher gelang es mir nicht, mich selbst zu lieben, mich zu spüren, mich mit meinem Bedürfnis nach Leben zu behaupten, das die gleiche blinde und taube Kraft hatte wie ihres. So kam es mir vor.
Doch auch für Elena sind die Dinge nicht einfach. Sie ist der Schatten in ihrer eigenen Geschichte, und selbst der Versuch, die Ereignisse, die Lila und sie gemeinsam durchlebt haben, zu erzählen, wird von ihrem immer weiter sinkenden Selbstwertgefühl überschattet. Sie glaubt nicht an sich selbst und kann daher nicht nachvollziehen, dass Lila an sie glauben könnte. Elena widmet sich äußeren Faktoren, die ihr einen Spiegel bieten könnten, in dem sie zufrieden mit dem ist, was sie sieht. Außerdem ist da ihre ständige Angst, wie ihre Mutter zu werden – ein weiterer Faktor, der sie dazu antreibt, sich einen „neuen Namen“ zu schaffen. Einen Namen, der Erfolg, Unabhängigkeit und Respektabilität symbolisiert, die sie durch Bildung und Schreiben sucht.
Für Elena wird ihr „Name“ als Schriftstellerin zur Projektion ihrer intellektuellen und sozialen Ambitionen. Doch dieser bleibt zerbrechlich und wird ständig von den Beziehungen und Einflüssen um sie herum bedroht – von Nino und vor allem von Lila.
Am Anfang habe ich dem Titel nicht viel Beachtung geschenkt – ich war viel zu aufgeregt, die Geschichte fortzusetzen, nachdem ich sie fast ein Jahr lang fast aufgegeben hatte. Aber als mir klar wurde, um welchen neuen Namen es ging, und als ich den Zusammenhang mit dem gesamten Kontext des Romans herstellte, stockte mir der Atem. Wenn ich auf allerlei Interpretationen stoße, die immer abenteuerlicher werden, frage ich mich oft, ob das wohl „die Intention des Autors“ gewesen sein mag. Oder der Autorin, da wir ja über Elena Ferrante sprechen. Meistens weiß ich es nicht. Aber im Fall von Ferrante weiß ich es – denn gerade die Anonymität der Autorin gibt mir, der Leserin, die Macht, an all diese gewagten Interpretationen zu glauben.
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