Eine Kollegin aus unserem Buchclub auf der Arbeit hat mir schon vor langer Zeit Nikolai Gogols Kurzgeschichte, oder besser gesagt Märchen, „Die Nacht vor Weihnachten“ empfohlen. Allerdings hätte ich sie niemals mitten im Sommer oder zu irgendeiner zufälligen Zeit lesen können. Wie bei vielen russischen Klassikern lohnt es sich, Gogols Weihnachtsgeschichte in der Vorweihnachtszeit zu lesen. Denn die russischen Meister verstehen es, in ihren Erzählungen die Magie und die Macht des Winters auf einzigartige Weise einzufangen.
In der Vorweihnachtszeit habe ich einige russische klassische Kurzgeschichten gelesen, aber drei davon sind mir besonders im Gedächtnis geblieben. Zwar steht in diesen Geschichten oft der Zauber des Winters im Mittelpunkt, doch sie zeichnen sich auch durch eine ganz eigene Erzählkunst aus. Gogol schreibt 200 Jahre nach Shakespeare, doch in seiner Geschichte habe ich die soziale Satire und den Humor des englischen Meisters wiedererkannt. Alexander Puschkin habe ich mit „Der Schneesturm“ zum ersten Mal gelesen – seine romantische, vielleicht etwas skurrile Geschichte hat mich tagelang beschäftigt. Und den großen Tschechow kenne ich bereits, vor allem, da meine geliebte Katherine Mansfield ihn sehr bewundert hat.
puschkin “der schneesturm” (1831)
Einige kamen auch, um sich die Tochter, Marja Gawrilowna, anzusehen, ein schlankes, blasses, siebzehn-jähriges Mädchen. Sie galt für eine reiche Braut, und viele sahen sie schon in Gedanken als eigene Frau oder als die ihrer Söhne. Marja Gawrilowna verdankte ihre Erziehung französischen Romanen, und infolgedessen war sie verliebt.
Ich muss zugeben, beim ersten Lesen von „Der Schneesturm“ von Puschkin habe ich die Handlung nicht sofort verstanden. Der Trick liegt darin, dass es in der Mitte der Geschichte eine Lücke gibt, die man erst bemerkt, wenn man sie zu Ende gelesen hat. Die Geschichte beginnt mit der jungen Marja, die sich heimlich mit ihrem Geliebten Wladimir treffen will, um gegen den Willen ihrer Eltern zu heiraten. Ein plötzlich aufziehender Schneesturm verhindert jedoch die geplante Hochzeit. Genau hier beginnt die Rätselhaftigkeit der Erzählung: Marja ist auf dem Weg zur Kirche, wo die Hochzeit stattfinden soll, doch bevor wir erfahren, was dort geschieht, lenkt Puschkin die Handlung um:
“Überlassen wir das Fräulein dem Schutze des Schicksals und der Kunst des Kutschers Tereschka, und wenden wir uns unserem jungen Liebhaber zu.
Wir wechseln jetzt die Perspektive zu Wladimir, der wegen des Schneesturms erst am nächsten Morgen die Kirche erreicht – zu spät, denn niemand ist mehr dort. Puschkin lässt die Leserin lange im Unklaren darüber, was wirklich geschehen ist. Erst am Ende, wenn die Wahrheit aufgedeckt wird, erkennt man die geniale Konstruktion der Erzählung: Die vermeintliche Lücke war ein meisterhaftes Spiel mit den Erwartungen der Leserin. „Der Schneesturm“ zeigt, wie Puschkin mit wenigen Worten eine atmosphärische Dichte und gleichzeitig eine unerwartete Tiefe schaffen kann.
gogol “die nacht vor weihnachten” (1832)
Ich kenne schon einige russische Klassiker: Tolstoj mit seiner „Anna Karenina“ kann man unendlich oft lesen, genauso wie Dostojewskis Untersuchung der menschlichen Seele in „Verbrechen und Strafe“. Über Tschechows Juwelen von Kurzgeschichten kann ich gar nicht erst anfangen zu sprechen – sie sind so reich an Bedeutung, dass es kaum möglich ist, ihnen gerecht zu werden. Doch Gogol hat für mich einen besonderen Platz unter den russischen Autoren. Seine Geschichten liegen mir besonders am Herzen. Wenn man „Die Nase“ oder „Der Newskij-Prospekt“ liest, befindet man sich plötzlich mitten in einer unperfekten Gesellschaft, die einfach versucht, das Beste aus dem Leben zu machen – obwohl die Fehlschläge unzählige Male häufiger sind als die Erfolge.
Der Schnee funkelte als ein großes silbernes Feld, von Kristallkernen übersät. Der Frost schien nachgelassen zu haben. Scharen von Burschen und Mädchen mit Säckchen in der Hand zeigten sich auf den Straßen. Die Lieder erklangen, und es gab fast kein Haus, vor dem sich nicht die Sänger drängten.
Wenn ich versuche, die Handlung dieser Geschichte zu erzählen, habe ich Angst, dass es kindisch klingt. Es ist die Nacht vor Weihnachen und wir haben es mit einer Hexe, einem Teufel, einem launischen Mädchen und einem Jungen zu tun, der alles tun würde, um das Herz seiner Geliebten zu gewinnen. Auf einer Ebene ist die Geschichte ein Märchen, aber auf einer anderen handelt sie vom Leben einfacher Dorfbewohner und den Bräuchen am Heiligen Abend. Die Hexe fliegt auf dem Himmel, landet bei sich in der Stube und wird auf einmal „Die Mutter des Schmiedes Wakula, nicht mehr als vierzig Jahre alt, weder schön noch hässlich“. Der Teufel stiehlt den Mond aber lässt sich von Wakula reiten, aus Angst vor dem Kreuz. Und Oksana, so schön und launisch wie sie ist, spielt mit der Liebe und mit dem Herz von Wakula.
Alle Figuren verkörpern auf ihre eigene Art menschliche Schwächen und Fehler. Da ist der Schmied Wakula, ein talentierter, aber eitler Mann, der sich von der koketten Oksana manipulieren lässt. Sie fordert ihn auf, ihr die Schuhe der Zarin zu besorgen, bevor sie ihn heiratet. Trotz seiner Tugenden ist Wakula oft impulsiv und übermäßig ehrgeizig. Die Figuren sind nie vollkommen gut oder böse. Der Teufel selbst spielt eine entscheidende Rolle, und doch wirkt er manchmal fast mitleiderregend in seinen erfolglosen Intrigen gegen Wakula. Selbst die Dorfbewohner, die sich über Aberglauben und kleine Schwindeleien definieren, tragen zur humorvollen und zugleich tiefsinnigen Atmosphäre bei. In seiner Geschichte schafft Gogol eine unvergessliche Mischung aus Fantastik, Komödie und Gesellschaftskritik.
tschechow “scherz” (1886)
Der Schlitten fliegt wie ein Geschoß. Die Luft, die wir durchschneiden, schlägt uns ins Gesicht, heult, pfeift in den Ohren, zerrt an uns, zaust uns boshaft, so dass es wehtut, und möchte uns am liebsten die Köpfe abreißen. Der Druck des Windes macht es unmöglich, Atem zu schöpfen.
Für mich, und vielleicht auch für euch, waren die Winters meiner Kindheit eine besondere Zeit, an die ich gerne zurückdenke. Kurze Nachmittage und lange Abende bedeuteten, dass ich mehr Zeit zum Lesen hatte – außer natürlich, wenn es darum ging, Schlitten zu fahren. In unserer Nähe gab es einen kleinen Hügel, den wir „101“ nannten. Warum, konnte ich nie sagen. Aber eines war klar: Wer Schlitten fahren wollte, musste dorthin gehen. Es kostete zwar Kraft, den Schlitten den Hügel hinaufzuziehen, doch all das war vergessen, sobald man den Fahrtwind im Gesicht spürte und den Hang hinunterraste. Als ich „Scherz“ von Tschechow gelesen habe, kamen diese fast verblassten Erinnerungen wieder zurück – frisch wie der erste Schnee des Winters.
Wie in viele Geschichte Tschechows, auch in „Scherz“ dreht sich alles um einen Moment – scheinbar flüchtig, aber doch voller Bedeutung. Der Protagonist nutzt eine Schlittenfahrt mit einer jungen Frau, um ihr in einem wagemutigen Moment „Ich liebe dich!“ ins Ohr zu flüstern. Die Worte werden vom Fahrtwind mitgetragen, und die junge Frau ist sich nicht sicher, ob sie die Worte wirklich gehört hat oder ob sie nur eine Einbildung waren. Der Moment ist ambivalent – ein Spiel mit Gefühlen, das gleichzeitig leicht und schwer wirkt.
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Im Dezember habe ich sowohl russische als auch englische Klassiker gelesen. Es ist erstaunlich, wie unterschiedlich die Stile sind und welche verschiedenen Gefühle sie hinterlassen. Die russischen Geschichten sind oft von einer tiefen Melancholie und emotionalen Intensität geprägt, und die englischen Klassiker der Weihnachtszeit entführen die Leserin in eine Welt voller Geister und übernatürlicher Erscheinungen. Die Tradition der englischen Geistergeschichten zu Weihnachten schafft eine gemütliche und dunkle Atmosphäre – ein Kontrast zu der volkstümlichen Wärme und Magie, die russische Wintererzählungen auszeichnet. Beide Ansätze sind auf jeden Fall zauberhaft und machen die Weihnachtszeit zu der gemütlichsten Zeit des Jahres.
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