“Für 2024 ist mein Lesevorsatz, zu schauen, was sich auf meinem Regal mit ungelesenen Büchern angesammelt hat, unberührt und vergessen, und zu entscheiden, ob ich noch etwas damit anfangen kann.” Ende 2023 hatte ich mir vorgenommen, 12 Bücher auf Deutsch zu lesen, und hatte sogar ganz genau geplant, welche. Von den 12 habe ich 3 geschafft und die Hälfte doch weggelassen. Stehengeblieben bin ich allerdings nicht, denn einiges habe ich doch entdeckt in der klassischen und gegenwärtigen Literatur.
Iris Wolff und Elena Ferrante haben mich in der ersten Hälfte des Jahres am tiefsten berührt. Wolffs schöne Sprache und Ferrantes emotionslose Beschreibung des Lebens der Frauen haben sich gegenseitig ergänzt und eine wunderschöne Balance erschaffen.
was ich gelesen habe
Mein Lesejahr habe ich mit Iris Wolff’s “Lichtungen” angefangen und gleich danach mit dem zweiten Lesen von “Die Unschärfe der Welt” forgesetzt. Ich hatte das große Glück, Iris persönlich kennenzulernen und eine Lesung mit ihr zu organisieren. Ihre Bücher sind meistens in Rumänien, in Siebenbürgen, angesiedelt und werden von Charakteren bevölkert, die nicht genau wissen, wohin sie gehören. Hier oder da, zu dieser Sprache oder der anderen. Ihre Erzählweise ist gleichzeitig einfühlsam und kraftvoll, was ihre Werke zu einem wahren Genuss macht.
Da ich Rumänien auf Deutsch gelesen habe, dachte ich, ich könnte es auch andersherum probieren. Mircea Cărtărescus Erzählband „Melancolia“ hat für eine wunderschöne sprachliche Erfahrung gesorgt. Ich habe fast alle seine Bücher gelesen und dachte, ich könnte mich einmal an die Übersetzung wagen. Das Buch nimmt die Leserin mit auf eine Reise von der Kindheit über die frühe Jugend bis hin zur Jugend. Die drei Erzählungen, die den Band ausmachen, sind ein wahrer Genuss zu lesen.
Elena Ferrante zu entdecken war der Schock des Jahres. Von ihrem Buch „Meine geniale Freundin“, das vor kurzem von der New York Times als das beste Buch des 21. Jahrhunderts genannt wurde, kann man sich nicht trennen. Es wird die frühe Jugend von Lila und Elena erzählt, zwei Mädchen, die in einem ärmlichen Viertel von Neapel aufwachsen. Ihre Freundschaft ist intensiv und komplex, geprägt von Rivalität und tiefem Verständnis. Ferrante schafft es, die Höhen und Tiefen dieser Beziehung auf eine so fesselnde Weise darzustellen, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann.
Dieses Jahr markierte auch meine erste Begegnung mit Hermann Hesse. Sein kurzer Roman „Siddhartha“ kam genau zu mir, als ich ihn brauchte. Die Geschichte des jungen Brahmanensohnes, der sich auf eine spirituelle Reise begibt, hat mich tief berührt. Hesses Erzählung von Siddharthas Suche nach Erleuchtung und Selbstfindung ist zeitlos und universell, und sie hat mich dazu angeregt, mein Leben genau zu betrachten.
Auch ein neues altes Buch war Sándor Márais „Die Glut“. Der Autor wird heutzutage als einer der besten Schriftsteller der ungarischen Literatur des 20. Jahrhunderts anerkannt, und das Buch ist ein Meisterwerk. Durch die Erzählung Henriks bietet sein Werk einen tiefen Einblick in die menschliche Psyche und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu Beginn des 20ten Jahrhunderts.
was ich nicht gelesen habe und 2024 nicht lesen werde
Einiges von meiner 2023-Liste habe ich doch weggelassen. Es war gar nicht einfach, weil ich richtig Lust auf gegenwärtige fremdsprachige Literatur hatte. Doch bei Hervé Le Tellier, Yoko Ogawa und Sascha Filipenko habe ich mich entschieden, sie auf ein zukünftiges Jahr zu verschieben. Einiges habe ich allerdings doch geschafft, zum Beispiel Mircea Cărtărescu auf Deutsch zu lesen, was ich nie im Leben dachte, dass es möglich wäre.
was ich gekauft habe
Jedes Jahr nehme ich mir vor, keine neuen Bücher mehr zu kaufen, und jedes Jahr scheitere ich erfolgreich daran. Dieses Jahr war besonders schwierig, weil es einfach das Schicksal war, das mich dazu gebracht hat, Elena Ferrantes Bücher zu lesen. Ich habe „Meine geniale Freundin“ bei Caritas durch totalen Zufall gefunden und mir fest vorgenommen, auf das Schicksal zu warten, das mir die anderen drei Bücher aus der Neapolitanischen Saga schickt. Mein wunderbarer Mann hat letztendlich das Schicksal verkörpert und mir „Die Geschichte eines neuen Namens“ und „Die Geschichte der getrennten Wege“ geschenkt.
Dana Grigorcea ist eine aus Rumänien stammende Schweizer Autorin, und ihren Roman „Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit“ habe ich in der rumänischen Übersetzung gelesen. Jetzt möchte ich auch das Original lesen.
Ich habe das Jahr 2024 mit einer Geschichte im Kopf begrüßt. Ich wollte das Alte loslassen und das Neue annehmen. Ich glaube, dass mir das bis zu einem gewissen Grad gelungen ist, und ich fange auch langsam an zu erkennen, dass man das Neue nicht ohne das Alte haben kann. Alles wird in Schichten aufgebaut, die ineinander übergehen, sich umarmen und sich gegenseitig ablehnen. Wie kann man das Neue annehmen, wenn man das Alte nicht schon mal meistert?
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