Seit dem Erscheinen der HBO-Serie “L’amica geniale” im Jahr 2018 ist es nahezu unmöglich, sich vor dem Einfluss von Elena Ferrante zu verstecken. Inzwischen wurden noch eine Serie und ein Film basierend auf anderen zwei Romanen veröffentlicht, und es scheint, als ob jeder, der ihre Bücher noch nicht gelesen hat, dies nur aus eigenem Verschulden nicht getan hat. Ich gehörte lange Zeit zu dieser Gruppe, da Ferrantes Werke aufgrund ihrer überwältigenden Popularität meinen Geschmack nicht zu treffen schienen. Doch als mein Buchclub entschied, dass “Meine geniale Freundin” das Buch des Monats Februar sein sollte, gab ich schließlich nach. Wie viele andere ließ ich mich auch von der düsteren Magie von Ferrantes Fiktion gefangen nehmen und verschlang das erste Buch der Neapolitanischen Saga innerhalb einer Woche.
kurz zusammengefasst
Neben “Meine geniale Freundin” habe ich seit Februar auch “Lästige Liebe” von Elena Ferrante gelesen, und langsam dämmert mir, dass es unmöglich ist, einen Roman der Autorin kurz zusammenzufassen. Was oberflächlich geschieht, stellt nicht den eigentlichen Dreh- und Angelpunkt des Romans dar, sondern dient vielmehr als Vorwand, um ein eindringliches Licht auf komplexe menschliche Beziehungen und Herausforderungen der Armut zu werfen.
Im Internet liest man, dass es in “Meine geniale Freundin” um zwei Freundinnen geht, die in einem armen Viertel Neapels der 1950er Jahre aufwachsen. Kann man sagen. Um das etwas nuancierter darzustellen, sage ich noch dazu, dass es viel mehr darum geht, wie eine der beiden Mädchen, Elena, versucht durch ihre Erzählungen die geheimnisvolle Persönlichkeit ihrer Freundin Lila zu entschlüsseln. Elena erzählt die Geschichte wie sie und Lila sich kennengelernt haben,und sie gemeinsam die Grundschule besuchten. Lila zeigte eine bemerkenswerte Neigung zum Lernen, doch sie musste die Schule aufgeben, um im Haushalt der Eltern zu helfen. Während Elena ihren Weg zur Mittel- und Oberstufe fortsetzt, bleibt sie für den Rest ihres Lebens mit Lila verbunden. In Elenas Bestreben, Lilas Entscheidungen und Motivationen zu verstehen, wird deutlich, dass auch Lila Elena als Spiegel für ihre eigene Anstrengungen betrachtet.
Schon damals war da etwas, das mich davon abhielt, sie im Stich zu lassen. Ich kannte sie nicht gut, wir hatten nie ein Wort miteinander gewechselt, doch ich hatte das dunkle Gefühl, dass ich ihr etwas von mir überlassen hätte, was sie mir nie zurückgegeben hätte, wenn ich mit den anderen weggelaufen wäre
die Sicht von außen
Die Geschichte beginnt am Ende. Elena ist etwa 60 Jahre alt und erfährt, dass Lila spurlos verschwunden ist. “Mal sehen, wer diesmal das letzte Wort behält”, überlegt sich Elena und fängt an darüber zu schreiben, wie sie Lila kennengelernt hat, als sie kleine Mädchen in einem armen Viertel Neapels waren. Die Details ihrer Leben werden nach und nach enthüllt, während sich die Sicht des Kindes Elena mit der Sicht der Erwachsenen Elena verwebt. Langsam wird klar, dass Armut nicht nur eine Frage des Geldes ist, sondern auch die Psyche und die zwischenmenschlichen Beziehungen prägt. Elena und Lila kämpfen nicht nur gegen die äußeren Widrigkeiten, sondern auch gegen eine innerliche Armut, die ihre Ambitionen und Träume einschränkt.
Allerdings erkennt die junge Elena das nicht. Sie spielt unschuldig mit ihren Puppen, während die Schatten der Realität langsam über ihr Spiel huschen. Lila hingegen spürt bereits die Dinge, die zu dieser Realität gehören und, in den Augen der jungen Elena, wirkt Lila bizarr und unnachgiebig. Eine besonder bizarre Szene ereignet sich, wenn die beiden mit ihren Puppen spielen und Lila Elenas Puppe in die Dunkelheit eines Kellers wirft. Um die Puppen zurückzuerlangen, drängt Lila Elena, ihr zu folgen, bis zur Tür des gefürchteten Don Achille. Was Lila dabei im Sinn hatte, bleibt uns ein Rätsel. Ein Teil von Lila bleibt uns durch das gesamte Buch verborgen.
smarginatura
Die amerikanische Schriftstellerin Jhumpa Lahiri betont in einem Gespräch über die Werke von Elena Ferrante, dass das Konzept der “smarginatura” einen zentralen Platz in ihrem Schreiben einnimmt. Im Buch wird dieses Wort als “Auflösung” übersetzt, und Elena gibt uns eine beeindruckende Erklärung für das Phänomen, das Lila erlebt: “Es war, als würde etwas durchaus Materielles, das sie und jeden und alles seit jeher umgab, ohne dass man es wahrnehmen konnte, nun offenbar werden und die Konturen der Menschen und Dinge sprengen.”
Elena erzählt, dass Lila dieses Erlebnis zum ersten Mal an Silvester erfährt. Die Mädchen, zusammen mit Lilas Bruder Rino, und anderen Freunden, schießen Feuerwerke von einem Wohnblock ab. Auf einem anderen Wohnblock zünden die Solara Bruder Feuerwerke, und in dieser Nacht werden die beiden Gruppen zu offenen Feinden. Da die Solaras den Geldfluss im Viertel kontrollieren, geht es in diesem Kampf viel mehr als um die eigentlichen Feuerwerke. Lila beobachtet hilflos, wie der Zorn in ihrem Bruder steigt und er jegliche Menschlichkeit verliert. Für Lila wird er zu einem Symbol von Armut und Gier, der sich in etwas Unmenschliches und Urzeitliches auflöst, ohne Möglichkeit der Flucht.
“Smarginatura” durchzieht nicht nur als ein von Lila erlebtes Phänomen das Buch, sondern es prägt die gesamte Erzählung. Die Verbindung zwischen Lila und Elena ist unzertrennlich und von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt. Lila eifert Elena nach, indem sie Latein und Griechisch zu Hause studiert, um das gleiche Maß an Bildung zu erreichen. Gleichzeitig versucht Elena, das selbstbewusste Verhalten ihrer Freundin in ihr eigenes Leben zu integrieren. Diese wechselseitige Abhängigkeit der beiden Mädchen ist so tiefgehend, dass sie keine alleinstehende Form annehmen können. Ähnlich wie die Figuren selbst, spiegelt sich diese Metapher auch auf der erzählerischen Ebene wider. Vergangenheit und Gegenwart kommen zusammen, um Elenas Geschichte ihre endgültige Form zu verleihen. In dieser symbiotischen Beziehung können die zwei Facetten der Zeit nicht ohneeinander existieren und jede findet ihre Vollständigkeit erst in der Kunst der Geschichtenerzählens.
als Schlusswort
“Meine geniale Freundin” ist ein literarisches Meisterwerk, ein Spiegelbild der sozialen Realität der Armut und eine mitreißende Geschichte über Freundschaft, Ehrgeiz und den Kampf gegen die Widrigkeiten des Lebens. Es hat mich auf eine Weise berührt, wie es schon lange kein Buch mehr geschafft hat. Elena Ferrantes Roman zeichnet ein lebendiges Porträt einer Welt, das immer noch in mir nachhallt.
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