Iris Wolff lernte ich 2021 in Ingolstadt kennen. Sie fungierte als Kuratorin einer Abteilung des örtlichen Literaturfestivals. Cristina, die Präsidentin der rumänischen Gemeinschaft in der Stadt, stolperte zufällig bei einer kulturellen Veranstaltung über die Autorin. Cristina fragte Iris, ob sie Interesse daran hätte, bei einer Diskussion rund um “Die Unschärfe der Welt” teilzunehmen. Das Buch war gerade erschienen und für viele Mitglieder und Mitgliederinnen der Gemeinschaft relevant. Iris Wolff stimmt freundlicherweise zu, und, zu meiner Überraschung, bat mich Cristina, die Moderation und Übersetzung des Gesprächs zu übernehmen. Der Zufall. Gibt es auf dieser Welt etwas Unheimlicheres und Erhabeneres?
kurz zusammengefasst
Auf dem Backcover des Buches steht – von mir frei wiedergegeben – dass “Die Unschärfe der Welt” die Geschichte einer Familie aus dem Banat erzählt, deren Mitglieder sich über Grenzen hinweg verlieren und wiederfinden. Doch hierbei verwebt sich nicht nur das Räumliche, sondern auch das Zeitliche. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts spielt eine tragende Rolle in den Schicksalen der sieben Hauptfiguren, deren Perspektiven den Roman aufbauen. In jedem Kapitel bringt jede Figur ihre eigene Perspektive in die Erzählung ein, wobei insbesondere ihre individuellen Persönlichkeiten der Geschichte Tiefe und Vielfalt verleihen.
Samuel ist der Dreh- und Angelpunkt der Erzählung, obwohl ihm kein eigenes Kapitel gewidmet ist. Im ersten Kapitel entfaltet sich das Leben einer Pfarrerfamilie in einem Siebenbürgischen Dorf der 1970er Jahre durch die Augen von Florentina, Samuels Mutter. Im dritten Kapitel reflektiert Karline, Samuels Großmutter, über die Bedeutung von Erinnerungen im Alltag, und der Leserin eröffnet sich ein Fenster in das Leben einer wohlhabenden Familie aus Siebenbürgen der 1930er Jahre. Schon nach den ersten 2-3 Kapiteln wird eine bestimmte chronologische Ordnung deutlich. Wir verfolgen das Leben von Samuel durch die Augen von sieben unterschiedlichen Personen. Wir erleben seine Geburt, sein Heranwachsen, seine Liebe und seine Reife. Samuel bildet das Herzstück des Romans und auf ihn wirken sich die Folgen des 20. Jahrhunderts aus.
Figuren, an erster Stelle
Die Sprache von Wolff fließt mal wie ein ruhiger, mal wie ein wilder Fluss – mal verworren, mal sanft, dann wieder eng und dem Blick entzogen. Fragmentierte Passagen einer fließenden Erzählung weben sich geschmeidig, mal durch Emotionen verzerrt, mal klar und kühl, mit dem Blickwinkel des jeweiligen Hauptcharakters, durch die Geschichte. Der Leserin bleibt oft die Objektivität der Szenerie verborgen, und stattdessen tauchen die tiefen Gefühle der Figuren auf. Ein klares Beispiel hierfür ist der erste Satz: “Lass mir das Kind”. Erst 20 Seiten später wird der Leserin bewusst, dass sich der Satz auf Samuels Geburt beziehen könnte. Doch die Dinge nehmen einen anderen Verlauf, vor dem Hintergrund der wenig subtilen Grausamkeiten einer Geburtsklinik im Banat der 70er Jahre.
Als sie erwachte, war vor den Fenstern Nacht. Sie legte ihre Hände auf dem Bauch, wie sie es die letzten sechs Monate getan hatte, flach, die Finger gespreizt. Dann spürte sie ein warmes, warnendes Prickeln im Nacken. Eine Frau fixierte sie vom Fenster her, als wollte sie sagen: Hör auf, die anderen anzustarren. Florentine spürte, wie etwas in ihr wegsackte. Die Luft war stickig. Ihr kam der Gedanke, dass sie vorsätzlich alle in einem Zimmer unterbracht worden waren. Es entband die Ärzte davon, sie als einzelne Menschen zu sehen.
Die eigentlichen Geschehnisse stehen jedoch nicht im Vordergrund. Die feinen Beobachtungen des Alltags und die tiefgehende Introspektion bilden das Herzstück des Romans. Kein Element ist aus erzählerischer Sicht zufällig platziert. Wenn Anfang November der Schnee zu fallen beginnt, ist “zăpadă”, Rumänisch für Schnee, das erste Wort, das Samuel ausspricht, der sein Leben lang bedacht mit Worten umgehen wird. Wenn Karline Schnitzel mit Bratkartoffeln brät, hebt sich ihre tägliche Routine in bitterem Kontrast zu ihrer Zuflucht in ihrer Vergangenheit hervor, die sich im Gästezimmer mit zwölf aufeinandergestapelten Matratzen wiederfindet. “Die Unschärfe der Welt” ist ein Roman der Gegensätze, die gemeinsam lebendige und überraschende Charaktere erschaffen.
rumänien auf deutsch
Ich habe von Iris Wolff noch zwei andere Bücher gelesen: den 2024 veröffentlichen Roman “Lichtungen” und die 2022 neu aufgelegten Kurzgeschichtenband “So tun, als ob es regnet”. Genauso wie in “Die Unschärfe der Welt” spielen Rumänien und Banat auch in den anderen zwei Büchern eine bedeutende Rolle. Iris Wolff wurde selbst in Siebenbürgen geboren und zog schon als kleines Kind mit ihrer Familie nach Deutschland um. Ihr Schreiben verdeutlicht, dass trotz der räumlichen Distanz viel von Rumänien in ihr erhalten geblieben ist: die schmerzhafte Geschichte des Kommunismus, die verspielte Sprache, die Bräuche und der Aberglauben.
“Die Unschärfe der Welt” habe ich auch in der rumänischen Übersetzung gelesen, und dabei hatte ich eine einzigartige Erfahrung. Einerseits las ich auf Deutsch über beängstigende Details des rumänischen Kommunismus, andererseits erfuhr ich auf Rumänisch die Einzelheiten einer Geschichte, mit der ich aufgewachsen bin. Das Original entfremdet mich von mir selbst, während die Übersetzung mich näher zu meiner eigenen Person und meiner Geschichte führt. Auf diese Weise offenbart sich mir eine weitere Facette der Frage, die die Romane von Iris Wolff durchziehen. Ich sehe mich konfrontiert mit der Suche nach meiner eigenen Identität in einem immer weiteren und grenzenloseren Europa.
Als Schlusswort
“Die Unschärfe der Welt” bereichert die Leserin mit jeder neuen Lektüre. Die Feinheiten der Details und die Merkmale eines jeden einzelnen Protagonisten entfalten sich erst, nachdem man sich mit der Welt des Romans vertraut gemacht hat. Das Buchcover, auf dem ein Weinrebenzweig zu sehen ist, tritt in einen subtilen Dialog mit den Figuren, und wirkt bei einer ersten Betrachtung etwas geheimnisvoll. Ich behaupte nicht, alles bis ins letzte Detail verstanden zu haben, doch es freut es mich, wenn ich ein Buch lese, das nicht bereits bei der ersten Begegnung alle seine Geheimnisse preisgibt.
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