Eins von den Dingen, die ich bei den Romanen von Iris Wolff liebe, ist die sich stets wandelnde Struktur. Ihre Geschichten folgen keiner konventionellen, geradlinigen Richtung, und als Leserin wird man dazu herausgefordert, die Handlung selbst zu konstruieren. Dies ist mir bereits bei ihren früheren Büchern “Die Unschärfe der Welt” (2020) und “So tun, als ob es regnet” (2017), aufgefallen. In “Die Unschärfe der Welt” wird Samuel, die Hauptfigur, durch 7 unterschiedliche Perspektiven betrachtet und dadurch nimmt er nach und nach mehr Form. In “So tun, als ob es regnet” wird eine Familiengeschichte durch sich miteinander verwobene einzelne Erzählungen aufgebaut. Und in 2024 stellt die Autorin mit “Lichtungen” ihre Leserschaft vor eine neue Herausforderung – eine rückwärts erzählte Geschichte, die mit Kapitel 9 beginnt und mit Kapitel 1 endet. Außerdem startet jedes Kapitel mit einem Zitat aus einer (mindestens mir) teilweise fremden Sprachen. Was für Überraschungen hat Iris Wolff dieses Mal für uns bereit?
kurz zusammengefasst
Die erste Überraschung erwartet die Leserin bereits auf der ersten Seite des Buches: “Sas pe thai nas pe.” Moment, was bedeutet das? Doch es geht weiter auf die nächste Seite mit dem Titel des ersten Kapitels: “Neun”. Und weiter: “Die Fähre zog eine schäumende Gischtspur hinter sich her.” Welche Fähre? Auf den folgenden vier Seiten begleitet man einen Mann namens Lev und eine Frau namens Kato, die in einer Fähre sitzen, nach einer sechs Wochen dauernden Reise durch Europa. Als Kato plötzlich verkündet, dass sie mitkommt, reagiert Lev überrascht: “Wir reisen gemeinsam zurück?” Ja, versichert sie ihm.
Und tatsächlich reisen wir mit Lev gemeinsam zurück. Für Lev steht seine Zukunft mit Kato bevor, während sich für uns Levs bisherige Leben entfaltet – die etwas mehr als 30 Jahre, als er in Maramureș, ein Gebiet im Norden Rumäniens, wächst, liebt und leidet. Die Geschichte enthüllt sich nach und nach, beginnend in Kapitel 8 mit der Zeit, die Lev mit Kato in Zürich verbringt. Er besucht sie, als die beiden gemeinsam versuchen, nach einer Trennung mit der neuen Realität in ihrem Leben umzugehen. Dann springen wir einige Jahre vor und erfahren, dass Lev und Kato im gleichen Dorf in Maramureș aufgewachsen sind, und sie eine sehr enge Freundschaft verbindet. Die Handlung läuft weiter und weiter in die Vergangenheit und erst am Ende verstehen wir das Bild, das vor unseren Augen gemalt wurde: die Mehrsprachigkeit im Levs Leben, Rumäniens Ende des 20. Jahrhunderts, große Liebe, großer Verlust, Familienleben. Erst dann verstehen wir, was auf der ersten Seite des Buches steht. Und es ist mehr als uns Google Translate sagen kann.
eine zweite, verborgene Geschichte
“Jetzt, wo sich in diesem Raum, wie auf einer Bühne, hinter der offensichtlichen Handlung, eine zweite, verborgene abspielte, war Camils linkes Auge ruhig. Er unterhielt sich mit Kato und ließ doch die beiden Männer nicht aus den Augen”
Vor unseren Augen entfaltet sich das Leben von Lev – Momente an der Iza, als die Familie den Tag der Arbeit feiert, seine unerwiderte Liebe für Kato, seine Zeit im Militär, das Unwohlsein in der Schule und ein ganzer Sommer als Waldarbeiter. Während die Handlung uns durch diese Momente führt, werden auch andere, etwas nebulöse Figuren aus dem Hintergrund hervorgehoben. In einem Interview erzählt Iris Wolff von Lis, Levs Mutter, einer der geheimnisvollen Figuren des Romans. Sie tritt selten auf, hat jedoch eine bedeutende Auswirkung auf Lev. Lis ist Sächsin, in Siebenbürgen geboren, und für die rumänische Familie seines Mannes fast eine Fremde. Die Geschichte wird durch Levs begrenzte Perspektive erzählt, wodurch nur geraten werden kann, was für ein Leben sie hatte, seit sie beschloss, mit ihrem Mann nach Maramureș zu ziehen. Die beiden Söhne aus einer früheren Ehe ihres Mannes haben die neue Frau ihres Vaters nie akzeptiert, und nur Bredica, die Schwiegertochter, scheint mehr Akzeptanz zu zeigen. Bredica ist eine andere geheimnisvolle Figur. Als Lev nach einem Unfall in Bett liegt, ist Bredica neben Lis die Einzige, die sich um ihn kümmert. Ihre Präsenz zeigt sich, ähnlich wie die von Lis, nur schwach, sowohl in Levs Leben als auch in dem Roman.
Eine weitere nebulöse “Figur”, die im Hintergrund erscheint, ist der rumänische Kommunismus. Wie in Iris Wolffs früheren Werken bilden Europa und Rumänien den großen Hintergrund der Erzählung. Das halbe Jahrhundert, in dem Rumänien im Kommunismus lebte, hat unsere Geschichte und Identität als Bevölkerung tief geprägt, und dies wird im Buch subtil dargestellt. Ein Merkmal des Alltages in den 80ern, den letzten Jahren des Kommunismus, war, dass in den Supermärkten, damals als “Aprozar” bekannt, nur noch wenig gab, was man kaufen konnte. Als Lis sich auf der Feier zum Tag der Arbeit darüber wundert “warum die Läden so voll waren”, was ja außergewöhnlich war, deutet die Erzählung darauf hin, dass Valea, einer der beiden Stiefbrüder Levs, der Einzige ist, der die Gründe dafür kennen könnte. Wir können nur vermuten, dass er in der kommunistischen Partei involviert ist und deswegen über “spezielle” Kenntnisse verfügt.
an der Schwelle zwischen außen und innen
Die Charaktere in Iris Wolffs Roman tragen fast alle zwei Facetten in sich. Eine, die unmittelbar in die Handlung eingebunden ist, und eine, die sich einer verborgenen inneren Welt zuwendet. Ein schöner Augenblick zeigt sich, als Lev seine Stiefschwester besucht und sie im Türrahmen stehen sieht, den Blick in die Ferne gerichtet.
“In Sommer saß sie manchmal in Türrahmen, das Gesicht zur Sonne. Sie saß im Türrahmen wie zwischen zwei Welten; der einen, die ihr zugehörte, und anderen, der sie zugehörte, und mit der Zeit veränderte sich ihr Gesicht, wie wenn Dunkelheit durch ein Leck einströmt”
Inmitten der äußeren Welt, die von den prägenden Ereignissen der Zeit gezeichnet ist, entfaltet Lev seine Geschichte. Jedoch habe ich das Gefühl bekommen, dass die äußere Welt nur ein Weg für uns ist, die innere Welt von Lev zu erkunden. Wenn Kato das Land verlässt, um nach Westen zu fahren, entscheidet sich Lev auch eine Fahrt zu machen, aber nicht nach Westen, sondern nach Süden. “Nicht hinaus aus diesem Land. Hinein”. Er flieht von seinem Schmerz, doch auf seinem Weg stößt er ständig auf Erinnerungen – bedeutsame Momente mit Kato, eine gescheiterten Beziehung. Ähnlich wie Bredica, steht Lev an der Schwelle zwischen außen und innen, und wir sind uns nie sicher in welche Richtung ihn die Geschichte treiben wird.
als Schlusswort
Durch ihren rückwärts erzählten Roman schenkt Iris Wolff ihrer Leserschaft eine bewegende Geschichte der Liebe, Einsamkeit und Beziehung. Die Entdeckung von Levs Leben und die Bindung zu Kato ist eine Leseerfahrung, die ich niemandem vorenthalten möchte. Daher habe ich mich darauf konzentriert, eher meine eigenen Gefühle beim Lesen zu vermitteln, anstatt zu sehr auf die Handlung selbst einzugehen. Die Geschichte ist so schön, ruhig und kunstvoll erzählt, dass es weniger darum geht, worum es geht, sondern vielmehr darum, gemeinsam mit Lev die äußere Welt ausklinken zu lassen, den Blick nach innen zu lenken und zu beobachten, was alles im Verborgenen liegt.
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