Ich schätze Mircea Cărtărescu sehr. Mein Einstieg in seine Prosa war mit 16 und mit “Nostalgia”, als mir eine Freundin den gerade neu aufgelegten Band empfohlen hatte. Die Ausgabe mit dem violetten Umschlag bleibt mir bis heute im Gedächtnis, und zieht mich immer noch an, wenn ich durch Antiquariate stöbere. “Nostalgia” ist eine Sammlung von Geschichten, die 1989 veröffentlicht wurde, und Mircea Cărtărescus erstes Prosawerk markiert. “Melancolia” hingegen, ebenfalls eine Sammlung von Erzählungen, wurde strategisch 2019 veröffentlicht, genau 30 Jahre nach “Nostalgia”. In Vergleich zu “Nostalgia” sehe ich in “Melancolia” einen gereiften Schriftsteller, der sich intensiv mit seinem Stil auseinandersetzt und sich offen, ehrlich und zutiefst melancholisch auf den Seiten präsentiert.
3 Geschichten, 3 wunderschönen Märchen
“Melancolia” besteht aus fünf Geschichten, und jede Geschichte nimmt einen präzisen Platz in der übergeordneten Handlung ein. “Der Tanz” und “Das Gefängnis” sind jeweils nur wenige Seiten lang und markieren den Eintritt, bzw. den Austritt aus Cărtărescus Traumwelt. “Die Stege” erzählt über die erste Etape im Leben eines Menschen und, ähnlich wie wir uns an unsere frühere Kindheit erinnern, vermittelt diese Geschichte das Gefühl eines Traums. “Die Füchse” hat mich besonders beeindruckt. Sie erzählt von Marcel, einem 8-Jährigen Junge, der aus der realen Welt in eine düstere Märchenwelt eintaucht, um das Leben seiner Schwester, Isabel, zu retten. “Die Häute” ist die längste Geschichte und zeichnet sich durch den typischen Stil von Cărtărescus fantastischer Prosa aus. Es handelt sich um Ivan, ein 15-jähriger Junge, der sich in Dora verliebt. Die beiden verbindet eine enge Freundschaft, und sie enthüllen einander ihre tiefsten Geheimnisse – wie Jungs und Mädchen ihre Häute wechseln.
Der Prolog und der Epilog umschließen die 3 zentralen Geschichten wie eine Hülle der Erinnerungen und der Melancholie. Bereits im Prolog wird angedeutet, wie wir das Buch verstehen sollen. Es wird von einem Mann erzählt, der zu einer entlegenen Insel reist, um den Ausgang aus dieser Welt zu finden. Dieser Ausgang offenbart sich als ein Spiegel. Als er in die Welt zurückkehrt, ist er selber gespiegelt. Die Spiegelung, der Zwilling und der Doppelgänger durchziehen Cărtărescus Prosa und werden in “Melancolia” zu zentrale Ideen.
Der 5-jährige Junge aus “Die Stege” entdeckt sich selbst im Spiegel. Marcel kämpft in einer Traumwelt gegen seinen Doppelgänger, der seine Schwester entführt hat. Und Ivan trifft in einer der einfallreichsten und makabersten Szenen des Buches auf seinen Zwilling. Ohne zu viel zu verraten, sei gesagt, dass die Häute im Titel der Geschichte keine Metapher sind. Der Epilog faltet diese fantastische Welt des Traums und Alptraums wieder zusammen und lässt mich als Leserin nicht entkommen. Ich befinde mich noch immer in der Welt hinter dem Spiegel, gefangen in ihrer Faszination.
die Welt der universalen Ruinen
Wie der Autor selbst das Buch beschrieben hat, handelt es sich um ein neo-romantisches Werk. Liebe und Gefühle nehmen in jeder der drei zentralen Geschichten einen bedeutenden Platz ein, und die Motive, sowie die dargestellten Bilder erinnern an die Ästhetik des romantischen Zeitalters. Das Unheimliche, der Traum, Faszination mit dem Verfallenen, sowie die Ruinen, sind alle Schlüsselelemente der dunklen Romantik. Insbesondere die Ruinen sind eine wiederkehrende Thematik in Cărtărescus Prosa. Sie sind keine physischen Überreste vergangener Zivilisationen, sondern der natürliche Zustand der Welt. Die Welt war nie neu und glänzend, und kann auch nie wieder aufgebaut werden.
Für Ivan ist das Paradies “der Tagtraum einer grenzenlosen Landschaft ruinenhafter Gebäude. Gerne wäre er unsterblich gewesen, um jene Welt der universalen Ruinen endlos erkunden zu können, jedes von den Zeitläuften zerstörte und Vegetation überwucherte Bauwerk mit gelben Flechten an den Wänden betretend, auf deren Fußböden uralte Fotografien verstreut herumlagen”.
die Übersetzung
Ernest Wichner hat mehrere von Cărtărescus Werken ins Deutsche übersetzt. Über andere kann ich nichts sagen, aber bei “Melancolia” gelingt es Wichner, die Feinheiten der originalen rumänischen Sprache einzufangen. Cărtărescus Sätze sind bekannt für ihre Länge und emotionale Detailfülle, und seine Prosa liest sich dabei natürlich und lebendig. Wichner enttäuscht hier keineswegs. Seine Übersetzung bewahrt nicht nur die sprachliche Tiefe, sondern auch die Gefühlsintensität, die Cărtărescus Beschreibungen und Szenen auszeichnet. Ein schönes Beispiel kommt aus “Die Füchse”, als der Schriftsteller mit seinen Worten die kalte Luft verfolgt, die ihren Weg in Marcels Lunge findet:
Er spürte, wie sie sich in seinen Lungen verzweigte, ebenso wie die Äste der Bäume im Park sich in dünnere und wieder dünnere Äste und Zweige aufteilten. Marcel beobachtete dies nun von dem einen Grad der Dünne zum nächstdünneren, dabei atmete er tief ein, als wären seine Lungen der Himmel gewesen, der die gläsernen Bäume der Atmung umfing.
lohnt es sich?
Mircea Cărtărescus Prosa ist nicht gerade die einfachste. Doch für diejenigen, die bisher noch nicht mit seinem Werk vertraut sind, ist “Melancolia” ein wunderbarer Einstieg. In dem Buch entfaltet sich die Vielfalt seines Schreibens. Von lyrischen Passagen bis zu detailreichen Beschreibungen schafft er eine Atmosphäre, die seine Leserschaft in den Bann zieht. Gleichzeitig findet man in den Geschichten Themen wieder, zu denen Cărtărescu immer wieder zurückkehrt: die Liebe zur Literatur, verlorene Erinnerungen aus der Kindheit, eine eigenartige Herangehensweise an die großen Geheimnisse unserer Existenz. Ja, sein Schreiben erfordert Anstrengung. Ja, man muss die Zeit investieren. Aber die Mühe wird reich belohnt.
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